Sperrstunde wegen Corona Berlin will tanzen

Tanzpaar in Berlin: "Tanzen ist für mich Meditation"
Foto:Gordon Welters / DER SPIEGEL
Weserstraße, Berlin-Neukölln. Kurz vor 0 Uhr am Freitagabend wischt Murat, 28, in seinem "Späti International" schon mal den Boden. Eine Frau im langen Mantel, mit dunkel geschminkten Augen und riesigen, hohen Stiefeln tritt heran: "Kann man noch hier rein, oder habt ihr schon zu?" – "Ja, aber schnell, schnell", sagt Murat und schaut noch auf der Straße umher. Es nieselt leicht, auf dem Asphalt spiegeln sich die Lichter seines Ladens.
Immer mehr Menschen stehen jetzt plötzlich vorm "Späti International". Sie sind bunt bekleidet, haben offene Bier- und Sektflaschen in der Hand, manche rauchen Marihuana, wie man riechen kann. Murat wird jetzt hastig, er füllt noch mal schnell einen Kühlschrank mit Bier nach. "Letzte Runde dieses Jahr", ruft einer. "Bierpanik" nennt man das, sagt eine andere.
Der Grund für den Ausbruch der Bierpanik ist die Sperrstunde in Berlin. Erstmals seit 1949 soll in Berlin, einer der größten Partymetropolen der Welt, das Licht der Läden in der Nacht ausbleiben. Von 23 Uhr bis 6 Uhr morgens muss künftig geschlossen bleiben; an den Tankstellen darf ebenfalls kein Alkohol mehr verkauft werden. Wer seinen Laden offen lässt, dem droht ein Bußgeld ab 5000 Euro.
Weil die Regel ab Samstag gilt, musste diesmal um 0 Uhr geschlossen werden. In den Restaurants, Kneipen, Klubs - und auch in Spätis wie dem von Murat. Er hält das für eine Katastrophe. Ab 23 Uhr am Wochenende, da geht’s eigentlich richtig los, spät eben. Am Donnerstag hatte Berlin die magische Grenze von 50 Neuinfektion pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen überschritten. Die Stadt ist damit ein Risikogebiet, eine der Schwerpunkte: Kreuzberg und Neukölln, wo das Nachtleben von Berlin tobt. Die 7-Tage-Inzidenz beträgt derzeit in Neukölln 143,1.
0:15 Uhr
Den Block runter vom "Späti International" sind in einer Eckkneipe die Tische voll besetzt. Von "0 Uhr" will man im Laden nichts wissen, man sei nicht informiert worden, sagt eine Kellnerin auf Englisch. Tatsächlich hatte es in der vergangenen Woche Verwirrung gegeben, ob die Sperrstunde nun schon ab 0 Uhr am Samstagmorgen gilt oder erst ab 23 Uhr in der Nacht. Der Regierende Bürgermeister hatte das via Twitter noch mal klargestellt und eine Pressemitteilung herausgegeben, und dennoch haben etliche Bars und Restaurants weiter geöffnet mit der Begründung, die Sperrstunde gelte erst ab Samstagabend. Der Laden wird heute noch lange aufbleiben.

Jeannette und Rita, beide 30
Foto: Gordon Welters / DER SPIEGELAus der Kneipe kommen Jeannette und Rita, beide 30. Von der Sperrstunde hält Jeannette nichts. "Die jungen Leute werden sich sowieso zusammenrotten", sagt sie, notfalls dann eben bei irgendwem zu Hause. Zudem hätte sich die Politik besser vorbereiten müssen, weil alle wussten, dass es im Herbst kritisch wird. Rita widerspricht: Es sei richtig, dass die Regeln von oben vorgegeben würden. In Großbritannien schicke man die Alten nach Hause, damit die Jungen feiern können. "Hier gilt das Wertesystem, dass wir auf unseren Spaß verzichten. Abends nicht mehr ins Berghain in die Darkrooms zum Bumsen, damit die Oma noch in den Supermarkt kann." Das finde sie richtig, die Jungen sollten verzichten. Das Gespräch wird unterbrochen von einem Koksdealer, der irritiert fragt, ob man bestellt habe.
0:30 Uhr
Kreuzberg, Oranienstraße. Vor Läden wie dem SO36 oder dem gegenüberliegenden Franken haben sich Trauben von etwa 20 Menschen gebildet. Die Rollläden fallen, draußen stehen kleine Grüppchen und rauchen. Ein Späti verkauft drinnen noch Bier - unter der Hand -, davor hat sich eine Schlange gebildet. Immer wieder fährt eine Streife vorbei, die nicht eingreift.

Oranienstraße, Berlin
Foto: Gordon Welters / DER SPIEGELIn einer Fünfergruppe läuft Charlotte. Sie ist 22 Jahre alt, studiert in Berlin Film, sie schiebt ihr Rad durch die kleine Menschenansammlung. "Ich gehe jetzt nach Hause, leider", sagt sie, "morgen dann wieder, vielleicht muss man ab jetzt einfach früher anfangen." Charlotte sagt, sie verstehe die Einschränkungen, trotzdem wird sie sich in der nächsten Zeit wieder mehr mit Freunden in ihrer Wohnung treffen. Viele, die man in dieser Nacht antrifft, ziehen sich für Partys in die Privatwohnungen zurück.
0:45 Uhr
Sonnenallee, Neukölln. In einem Lokal dreht im Schaufenster ein Spieß mit saftigen Brathähnchen. Die Tische sind trotz Sperrstunde voll besetzt. Ein Polizeiwagen hält, die Männer sind in voller Montur. Beide betreten den Laden, einige Gäste drehen sich um. Sie stehen am Tresen. Wird hier jetzt durchgegriffen? "Menü 2", sagt der Beamte zum Verkäufer. "Zwei Mal? Wolltest du auch, oder?" Er schaut zu seinem Kollegen rüber, der nickt. Danach verlassen beide mit ihren Tüten Brathähnchen entspannt den Laden. Müssten sie nicht eigentlich kontrollieren, weil der Laden überhaupt nicht mehr aufhaben dürfte? Nicht zuständig, sagen sie.
Tatsächlich ist für die Sperrstunde formal das Ordnungsamt zuständig, wie das Bezirksamt Neukölln mitteilt. Nur ist das ab 0 Uhr nicht mehr im Dienst, weswegen dann die Polizei übernimmt. Für die Sperrstunde hat man in Berlin in der Samstagnacht aber keine zusätzlichen Polizeikräfte in den Bezirken einbestellen können, weil diese mit der Räumung des "Liebig 34" beschäftigt sind.
1:20 Uhr
Zurück in der Weserstraße. Vor einem Eck-Späti dröhnt brasilianische Musik, Forró. Es wird getanzt. Eine Frau und ein Mann schreiten mit ausgestreckten Armen im Rhythmus über den Asphalt, ihren Namen wollen sie nicht nennen. "Nötig, aber scheiße", nennt der Mann die Sperrstunde. Jetzt tanzten sie ja nur – und auch nur mit den Menschen, die sie kennen.
Die Frau erzählt, dass sie gerade eine kurze Quarantäne hinter sich habe, weil die Mitbewohnerin ihres Tanzpartners in ihrer Tanzgruppe infiziert sei. Ihr Tanzpartner sei aber in der Zwischenzeit negativ getestet worden. Sollten sie jetzt aufhören zu tanzen? "Tanzen ist für mich Meditation", sagt sie. "Mir fehlte der Ausgleich, deswegen bin ich wieder zur Tanzgruppe gegangen." Es sei eine Moralfrage, am Ende war ihr das Tanzen zu wichtig.
1:40 Uhr
Vor dem "Späti International" steht noch immer eine Gruppe Menschen, die Bier vor dem geschlossenen Laden trinken. Murat, der Besitzer, hat pünktlich zugemacht und steht jetzt selbst dabei. Eine Freundin von ihm, Selma, 33, ist auch da. Sie sei die größte Befürworterin der Sperrstunde. Sie selbst habe sich bei einer Party vor einigen Wochen mit dem Virus angesteckt. "Das war keine Grippe, das war schlimmer", sagt sie. Noch immer fehle ihr teilweise der Geruchs- und Geschmackssinn, Kopfschmerzen plagen sie. Beide bleiben noch ein wenig, ab morgen wollen sie dann aber wirklich auch nachts zu Hause bleiben.

Murat, 27, und Selma, 33
Foto: Gordon Welters / DER SPIEGEL2:30 Uhr
Kreuzberg, Oranienstraße. Sinan Kocak, 43, sitzt am Tresen seiner "Kek-Bar", die noch immer voll ist, und schlürft einen Wodka-Energy. "Das funktioniert nicht", sagt er über die Sperrstunde. Lieber sollte man zwei, drei Wochen ganz schließen, aber so? Die Leute werden um 23 Uhr in der Bar sitzen und nach der nächsten Runde fragen. "Die Menschen haben Sorgen", sagt er. Er kenne Pärchen, die sich getrennt haben, Existenzen, die zerstört wurden. "Mit Corona ist es doch nach ein paar Tagen vorbei. Eine Depression, die kann dich zwei, drei Jahre deines Lebens kosten."
Sein Handy blinkt. Eine unbekannte Nummer hat ihm auf WhatsApp geschrieben: "Hi. Die fangen an die Oranienstraße zu räumen", schreibt die Person. "Gleich mit Bußgeld. Wollte euch warnen." Kocak muss lachen, auf dem Profilfoto des Unbekannten ist ein Hund zu sehen. "Soll ich dem Hund etwa glauben, oder was?"

Polizei kontrolliert die "Kek-Bar"
Foto: Gordon Welters / DER SPIEGELEine gute Viertelstunde dauert es, dann kommt eine Gruppe Polizeibeamten vorbei. Ja, die Sperrstunde gelte schon ab heute 0 Uhr, erklären die Beamten. Kocak hält beide Hände hoch. "So, alle raus", sagt er den Besuchern. Ein Bußgeld bekommt er nicht. Die Polizisten sind entspannt. Wenig später ist der Laden zu.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der Tanzpartner der Protagonistin in der Weserstraße habe sich angesteckt. Tatsächlich handelt es sich der Frau zufolge um die Mitbewohnerin des Tanzpartners aus der Tanzgruppe. Wir haben die Stelle im Text korrigiert und um die Information ergänzt, dass der Tanzpartner negativ getestet worden sei.