Unbekannter Elternteil "Mein Vater ist tot. Ich habe es von einem Fremden erfahren"

Nach der Zeugung machte sich Papa davon: Jahrelang suchte Udo Taubitz nach seinem Vater - als er ihn endlich traf, zerbrach ein Traumbild. Nun ist sein Erzeuger tot. Über einen unerfüllten Vaterwunsch.
Udo Taubitz (undatierte Aufnahme)

Udo Taubitz (undatierte Aufnahme)

Foto: privat
Foto: Karsten Werner

Udo Taubitz, Jahrgang 1969, ist Schreibtrainer und Kinderbuch-Autor. Zuletzt erschien "Nelli und der Neidwichtel". Er wuchs in der DDR auf, flüchtete vor dem Mauerfall in den Westen. Er lebt mit seinen Kindern in Hamburg.

Mein Vater ist tot. Ich habe es von einem Fremden erfahren. Das ist sehr traurig, einerseits. Andererseits befreit es mich von all dem Grübeln, wie ich meinen Vater doch noch dazu bringen könnte, mich kennenzulernen. Da, wo andere einen Vater haben - leibhaftig oder im Herzen - hab ich eine Leerstelle. Kein Nichts, eher ein Fragezeichen, das seit Jahrzehnten in mir dreht und bohrt.

Dazu muss man wissen: Ich war ein Unfall. Meine Mutter, Mitte 20, geschieden, saß mit zwei kleinen Kindern in einem Plattenbau im Spreewald, gleich neben dem Braunkohlekraftwerk. Mein Vater war Wanderarbeiter, "auf Montage" hieß das in der DDR. Sie trafen sich in der "Turbine", da spielte jeden Donnerstagabend eine Schlagerband. Er war ein toller Tänzer, sagt meine Mutter. Die große Liebe. Sie sprachen vom Heiraten. Als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei - mit mir -, sagte er, dass seine Frau auch gerade schwanger sei.

Vor Gericht erkannte er die Vaterschaft an. Immerhin. Er überwies 60 Mark Unterhalt im Monat. Als ich fünf war, so erzählt es meine Mutter, stand mein Vater eines Abends vor der Tür und wollte mich sehen. Sie zeigte mich vor - ich schlief. Er soll gesagt haben, dass er sich zur Einschulung später "erkenntlich zeigen" wollte. Wahrscheinlich hat er es einfach vergessen.

Udo Taubitz bei seiner Einschulung

Udo Taubitz bei seiner Einschulung

Foto: privat

Jetzt hatte ich seine Adresse

Als ich größer war und verstand, dass ich eigentlich einen Vater habe, wollte ich alles über ihn wissen. Wie groß er genau ist. Was er gerne mag. Was er nicht mag. Meine Mutter wusste kaum mehr als seinen Namen. Aber immerhin. König. Das klang bedeutend - und geheimnisvoll. Könige haben natürlich keine Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Für mich war es normal, keinen Vater zu haben. Was man nicht kennt, vermisst man nicht. Oder? Und die real existierenden Vatis der anderen Kinder hielten meine Sehnsüchte in Grenzen: wandelnde Bierflaschen, laut und grob. Wer im Tagebau arbeitete, bekam jeden Monat einen Liter Bergmannsschnaps zum Lohn dazu.

Kurz vor meinem 18. Geburtstag schickte mein Vater einen Brief. Ich fand ihn im Briefkasten. Eine Glückwunschkarte? Ach was. "Wie lange muss ich noch zahlen?" Nur dieser eine Satz. Der mich fast zerriss. Die Wut schluckte ich runter. Jetzt hatte ich seine Adresse. Ich schrieb ihm Briefe. Wie groß er genau ist? Was er gerne mag? Was er nicht mag? Er schrieb nie zurück.

"Ich habe keinen Sohn"

Nach der Wende, ich war Anfang 20, fand ich ihn im Telefonbuch. Monatelang schaffte ich es nicht, die Nummer zu wählen. Irgendwann überwand ich mich - und er legte einfach auf. Das war ein bisschen wie sterben. Ich gab mir das alle paar Jahre.

Ich ging auf die 30 zu, als meine Freundin, die im Nebenfach Psychologie studierte, inbrünstig verkündete, jeder Mensch müsse unbedingt seine Eltern kennen, sonst drohe ewige Zerrissenheit. Wir fuhren mit meinem Käfer hin. Ein kleines Heile-Welt-Dorf. Ein schnurgerade umzäuntes Mini-Eigenheim.

Mein Vater öffnete die Tür. In Millisekunden zerbrach mein Traumbild vom Tanzkönig: Ein Halbglatzkopf in Trainingsanzug aus bunter Ballonseide maulte, was ich wolle. Ich brachte mit Mühe heraus: "Ich bin Ihr Sohn." Er sagte: "Ich habe keinen Sohn." Und machte die Tür wieder zu. Eine Frau in Kittelschürze schaute mich durch die Spitzengardine mit leerem Gesicht an. Damals dachte ich: Das Thema ist durch. Gut, dass ich keinen Vater habe. Besser keinen als so einen. Der Vaterwunsch lebendig vergraben.

Heute habe ich selbst drei Kinder, alle mit derselben Frau, wir wohnen zusammen. Ich versuche, ein guter Vater zu sein, auch wenn ich nicht genau weiß, was das heißt. Ich will ihnen sagen, dass ihr Opa tot ist. Sie werden wieder Fragen stellen. Es ist schwer, Kindern zu erklären, warum sie ihren Opa nie sehen durften. Warum ich meinen Vater nicht kenne. Warum ich nicht mal ein Foto von ihm habe.

Ein Gespräch, eine Umarmung - zu viel für meinen Vater

Vor ein paar Jahren fing ich an, nach meinen Halbgeschwistern zu forschen - da musste ja wer sein. Ich rief wildfremde Menschen an, die König heißen. Einer kannte tatsächlich meinen Vater und gab mir die Adresse meiner Halbschwester Bettina. Ich schrieb ihr. Sie schrieb zurück, dass ihr Vati ein toller Mensch sei, immer für andere da. Ich bat sie um ein Foto. Ich bettelte. Nichts.

Der nette fremde Herr König hat mir die Todesanzeige gemailt. "Ich denke, es hat jeder das Recht zu wissen, ob seine Eltern noch leben oder nicht", schrieb er dazu. Stimmt. Aber sollte nicht auch jedes Kind das Recht haben - tja, worauf? Einmal mit seinem Vater zu sprechen? Einmal freundlich begrüßt, einmal von ihm umarmt zu werden? Das klingt alles so mickrig. Für meinen Vater war es zu viel.

Todesanzeige

Todesanzeige

Foto: privat

Deswegen meine Bitte an jeden Mann: Wenn du da draußen ein Kind hast, das du nicht gewollt hast - kann passieren. Du musst ja nicht mit ihm Fußball spielen, Puppenkleider nähen oder Mathe pauken. Aber verleugne dein Kind bitte nicht. Erkläre ihm, warum du nicht mit ihm zusammen leben kannst oder willst. In welchen Umständen oder Ängsten du gefangen bist. Damit es die Schuld nicht bei sich sucht. Schenk ihm ein Foto von dir. Damit es in deinem Gesicht nach sich selbst forschen kann. Sorge dafür, dass es erfährt, wenn du gestorben bist. Damit es seinen Kindern sagen kann, ob sie einen Opa haben. Das ist nicht viel - aber wäre schon 'ne Menge.

Ruhe in Frieden, Papa.

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