Suchtkranke Aussiedler "Ich danke den weißen Mäusen"
Hamburg - Sergejs letzter Rückfall war eine Katastrophe. "Ich hatte das Gefühl, ich werde wahnsinnig - und verrückt sein ist schlimmer als sterben", erzählt der 47-jährige Alkoholkranke, der vor zehn Jahren aus Odessa nach Hamburg kam. Wenn Sergej die Klospülung drückte, hörte er klassische Musik. Machte er das Licht an, dröhnte Russen-Rap in seinem Hirn. Schloss er die Augen, flimmerten ganze Filme über seine Netzhaut. Alles nichts gegen die Stimmen. Tagelang flüsterten und drohten sie, ließen ihn nicht schlafen und an seinem Verstand zweifeln.
Bereits zum achten Mal war Sergej im Januar 2007 zur Entgiftung in einer Hamburger Klinik angetreten. Eine Überwachungskamera filmte ihn, als das Delirium Tremens begann. So heftig waren die Halluzinationen, dass der große, schmale Mann mit dem Jungengesicht erkannte: "Jetzt ist endgültig Schluss. Ich danke den weißen Mäusen, dass sie meinem Verstand auf die Sprünge geholfen haben." Sergej hielt den 21-tägigen Entzug durch und meldete sich erstmals zur Therapie an.
In Marina Krawtschenko von der Suchtberatungsstelle Kodrobs in Hamburg-Wilhelmsburg fand er jemanden, der professionelles Verständnis für seine Situation hat und zudem seine Muttersprache spricht. Seit Juni 2006 betreut die 30-jährige Sozialpädagogin eine russischsprachige Hotline für Suchtkranke aus den GUS-Staaten. "Unser Angebot, sich erst einmal anonym per Telefon und in der Muttersprache beraten zu lassen, hat die Hemmschwelle extrem gesenkt", berichtet Krawtschenko. Klienten, die sich nicht trauten, direkt zu Kodrobs zu kommen, ließen sich teilweise monatelang telefonisch betreuen, bevor sie einen Fuß in die Beratungsstelle setzten. Dann allerdings seien sie auch bereit, sich helfen zu lassen.
"Den Drogenmissbrauch im Rucksack"
Die rund 2,8 Millionen Aussiedler in Deutschland gelten traditionell als schwer zugängliche Gruppe unter den Migranten. Dass sie massiv mit Alkohol- und Drogenproblemen zu kämpfen haben, ist kein Geheimnis. Experten schätzen die Zahl der behandlungsbedürftigen Abhängigen auf bis zu 140.000. "Die jungen Zuwanderer werden bereits in ihrer Heimat mit der Sucht konfrontiert", sagt Christoph Bergner, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen: "Die kommen her und habe den Drogenmissbrauch im Grunde im Rucksack." Es sei entscheidend, "kulturelle Brüche auszugleichen" und die Integrationsarbeit zu fördern, erklärt Bergner. Dafür stelle der Bund immerhin 19 Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Weil er aber nur "modellhaft Empfehlungen" abgeben könne, seien besonders die Kommunen gefragt.
Und die haben handfeste Probleme: Rund 1,5 Millionen Alkoholabhängige in Deutschland verursachen schon jetzt volkswirtschaftliche Kosten von etwa 24,4 Milliarden Euro, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Gerade russische Migranten nehmen Hilfsangebote nur sehr zögerlich wahr, weil sie auf Grund ihrer Erfahrungen in der Sowjetunion ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber jeder Form von offizieller Struktur hegen. Behörden sind für viele gleichbedeutend mit Staat, Macht - und Problemen. Schlimmer noch: Weil die Sowjets einst psychiatrische Anstalten nutzten, um dort Dissidenten festzuhalten und zu foltern, schrecken noch heute selbst schwer Alkoholkranke vor einer stationären Therapie zurück, weil sie Psychiatrie mit Gefängnis gleichsetzen.
"Wir müssen immer erst Vertrauen schaffen, die Süchtigen haben große Angst vor gesellschaftlichen und gesetzlichen Sanktionen", sagt Suchtberaterin Krawtschenko. Soziologen betonen, dass die Auswanderung eine bereits bestehende Sucht fast immer intensiviert. Sprachschwierigkeiten, Arbeitslosigkeit und Identitätsverlust durch Entwurzelung machen den Aussiedlern zu schaffen. Alte Rollenmuster verlieren an Bedeutung, die Väter an Autorität. Viele fühlen sich durch behördliche Vorgaben entmündigt und von der deutschen Realität überfordert. Mit Ritualen aus der Vergangenheit wird ein Stück Heimat hinübergerettet in die neue Welt - auch wenn es die kollektive Sauferei am Küchentisch ist.
"Die Toleranz gegenüber Alkoholikern ist in Russland wesentlich größer als in Deutschland", erklärt Krawtschenko. Kranke würden dort von der Familie und Freunden lange Zeit geduldet, auch wenn es ihnen sehr schlecht gehe. In Deutschland falle der Missbrauch schneller auf, weil er als Krankheit definiert wird. "Sich in Russland zum Alkoholismus zu bekennen, ist so, als würde man sagen, ich bin impotent", weiß Sergej. Sowohl Süchtige als auch Angehörige reagierten auf die Abhängigkeit in der Regel mit Rückzug: "Die Probleme werden totgeschwiegen."
Viele russischstämmige Abhängige kommen daher erfahrungsgemäß erst sehr spät in die Beratungsstellen. Sie üben sich in Selbsttherapie, gehen zu ominösen Geistheilern oder verschreiben sich alternativen Heilungsmethoden.
Ersoffen in Selbstmitleid und Wodka
Auch Sergej wurde sich erst in Deutschland seiner Sucht bewusst. Das entfesselte Leben der neunziger Jahre in Odessa hatte dem ehemaligen Matrosen, KP-Mitglied, Schauspieler, Bauarbeiter und Bonvivant zugesetzt. Noch unter Andropow war er wegen Schwarzhandels zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Dann kam die Perestroika und brachte rauschende Empfänge, weite Reisen, wilde Partys, Unsicherheit und Lebenslust in einem. Alkohol war immer dabei, so mancher Exzess endete mit heftigen Schlägereien. Als seine dritte Frau Irina ihn 1994 verließ, ersoff Sergej bereits in Selbstmitleid und Wodka. "Ich habe unglaublich viel getrunken - einen Kasten Bier und ein bis zwei Flaschen Wodka am Tag." Irgendwann schluckte er eine Handvoll Tabletten dazu und beschloss, zu sterben. Einzig das beherzte Eingreifen eines Nachbarn rettete ihm damals in letzter Sekunde das Leben.
Sergej erkannte sein Problem und ließ sich von einer Ärztin "kodieren". Mit dieser in Russland beliebten Therapieform werden Süchtige per Hypnose darauf getrimmt, auf verbotenen Alkoholgenuss mit Brechreiz, Bewusstlosigkeit oder gar Herzstillstand zu reagieren. "Das ist prinzipiell möglich, weil man unter Hypnose die Herzsteuerung beeinflussen kann", erläutert Werner J. Meinhold, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Therapeutische Hypnose und Hypnoseforschung. Meinhold hält die Anwendung solcher "Aversionssuggestionen" gleichwohl immer für riskant, weil man damit nicht nur das Leben des Patienten gefährde, sondern auch Suchtverlagerungen hervorrufen könne. Sergej selbst bezeichnet die Methode heute als "Quatsch" - blieb aber danach immerhin acht Jahre lang trocken.
"Russen-Klinik" in Warstein: Normales Trinken gibt es nicht
Vitalij ist groß, dünn, hat kurz geschorenes Haar und einen herausfordernden Blick: Vor sechs Jahren kam er aus Sibirien nach Deutschland. Einen festen Job hatte er nie, die meiste Zeit zog er mit russischen Freunden durch das westfälische Arnsberg. "Wir haben da so unsere Treffpunkte, da gab's auch immer was zu Saufen und andere Sachen", erzählt er lakonisch. Die "anderen Sachen" - das war vor allem Heroin, von dem Vitalij zu diesem Zeitpunkt abhängig war. Mit der Zeit verlagerte sich die Sucht - der heute 29-Jährige verfiel dem Alkohol.
Auf bis zu drei Flaschen Wodka brachte es Vitalij am Tag. "Warum sollte ich nicht mittrinken?", fragt er schulterzuckend. Wenn er richtig in Stimmung war, streifte er mit den Kumpels durch die Stadt und provozierte Passanten. Er schlug sich mit Deutschen, verprügelte Türken und bedrohte Araber. "Ich hasse Deutsche eigentlich nicht, war halt so, dass die dran waren", sagt er. Seine blauen Augen funkeln, wenn er an die Zeit zurückdenkt.
Auf die Schlägereien folgten weitere Delikte. Inzwischen hat Vitalij mehr als 30 Strafanzeigen kassiert wegen Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch. Mehrmals saß er im Knast und ist auch jetzt nur auf Bewährung draußen. Dass die enthemmende und Aggression fördernde Wirkung von Alkohol bei Straftaten eine Rolle spielt, ist bekannt: Laut polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2006 knapp 30 Prozent aller Gewaltverbrechen unter Alkoholeinfluss begangen. Bei Mord sind es mehr als 20 Prozent, bei Totschlag sogar 38,2 Prozent.
Was Vitalij letztlich dazu brachte, eine Therapie zu versuchen, will er nicht sagen. Seit 22 Wochen lässt sich der gebürtige Sibirier stationär gegen seine Trunksucht behandeln - in der Klinik Warstein in Westfalen. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragene Klinik auf nichtdeutschsprachige Abhängige spezialisiert. Damit ist sie eine von drei Kliniken bundesweit mit einem solchen Spezialangebot.
"Gerade bei Patienten aus Russland kommt es immer wieder vor, dass sie Alkoholismus nicht als Krankheit begreifen, sondern als normales Trinken. Der Kontrollverlust danach wird als Schwäche ausgelegt", erklärt Thomas Heinz, Chefarzt der Abteilung Sucht und Rehabilitation der Klinik Warstein.
Mehrere Ärzte und ein fünfköpfiges Therapeutenteam kümmern sich hier um die Patienten. Die 32 Betten der "Russen-Station" sind stets ausgelastet. Innerhalb der vergangenen fünf Jahre wurde das Angebot verdoppelt. Vor allem bei Suchtkranken aus den GUS-Staaten und Polen ist die Nachfrage groß, sie kommt aus dem gesamten Bundesgebiet. Vier bis sechs Monate bleibt ein Süchtiger im Schnitt in der Klinik, die Zahl der Patienten wachse unablässig, so Heinz. Wurden 2006 noch 45 insgesamt als therapiert entlassen, waren es 2007 schon 66.
Auch Vitalij besucht täglich Gruppen- und Einzelsitzungen. Seine Therapeutin Joanna Jarzombek blickt ihn sorgenvoll an. Unlängst fiel er bei einer der täglichen Kontrollen durch. "Er hatte wieder getrunken. Wir hoffen, dass er jetzt durchhält." Sicher ist sie sich nicht.
Jarzombek arbeitet seit fünf Jahren in der Klinik, leitet Therapien und hilft beim Deutschlernen. Das, so die Therapeutin, sei die größte Hürde für ein normales Leben in Deutschland. "Nicht mal Behördenbriefe können diese Menschen richtig lesen. Die bringen einen Stapel ungeöffneter Zusendungen mit und haben Angst, es könnte etwas Schlimmes darin stehen." Im Grunde sei es ein Teufelskreis: "Sie kommen nach Deutschland, in der Hoffnung, hier ein besseres Leben zu führen, aber oft wird es schlimmer als vorher. Quasi vom Traum zum Trauma."