Traumatisierte Flüchtlinge "Es müsste viel mehr passieren"

Asylbewerber in Berlin
Foto: Stefanie Loos/ REUTERSDie Leopoldina schlägt Alarm: Die altehrwürdige Nationale Akademie der Wissenschaften fordert in einer Stellungnahme schnelle Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge. Vorläufigen Schätzungen zufolge gebe es rund 250.000 Betroffene in Deutschland, wenngleich nicht alle eine Eins-zu-Eins-Therapie benötigten. "Sofortiges Handeln ist erforderlich", schreiben die Autoren in der Stellungnahme. "Andernfalls können sich gravierende negative Konsequenzen ergeben: für die Betroffenen selbst, für deren nachfolgende Generationen und für die Gesellschaft."
Flüchtlinge hätten häufig immense Gewalt und lebensbedrohliche Situationen erlebt, warnen die Wissenschaftler. Bei vielen führe das zu psychischem und körperlichem Leid. "Ein Teil der Flüchtlinge ist dadurch nicht in der Lage, den Alltag zu bewältigen, soziale Beziehungen einzugehen oder eine neue Sprache zu erlernen."
Die Autoren empfehlen eine Reihe von Gegenmaßnahmen. Vor allem müssten die Behandlungen passgenauer werden: Nur noch die komplizierten Fälle sollten beim Psychotherapeuten oder Psychiater landen, für die einfacheren Fälle brauche es leichter zugängliche Angebote.

Professor Malek Bajbouj ist einer von mehr als zehn Autoren der Leopoldina-Stellungnahme und Leiter des Bereichs Affektive Neurowissenschaften an der Berliner Charité. Die Universitätsklinik hat eine Psychiatrische Clearingstelle geschaffen, einen Anlaufpunkt für Flüchtlinge mit psychosozialem Behandlungsbedarf.
SPIEGEL ONLINE: Herr Bajbouj, welche Hilfen benötigen traumatisierte Flüchtlinge?
Malek Bajbouj: Es gibt recht viele Flüchtlinge mit psychosozialem Behandlungsbedarf. Manche benötigen einen Traumatherapeuten, anderen kann niedrigschwelliger geholfen werden. Die meisten stehen vor einer Vielzahl an Hürden: Sprachbarrieren, kulturell eingetönte Krankheitsbilder, für deren Behandlung es zu wenig Personal gibt.
SPIEGEL ONLINE: Kulturell eingetönte Krankheitsbilder?
Bajbouj: Wenn ein Mitteleuropäer unter einer Depression leidet, berichtet er üblicherweise von einer niedergedrückten Stimmung, von Schlafstörungen, von Interessensverlust. Bei depressiven Menschen aus dem Nahen Osten hingegen sind eher körperliche Symptome prominent, oft klagen sie über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Gliederschmerzen.
SPIEGEL ONLINE: Sie fordern gemeinsam mit zwölf weiteren Autoren schnelle Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge. Wie groß ist das Problem?
Bajbouj: Groß, allerdings ist das noch eine Gleichung mit einigen Unbekannten. Bislang fehlen systematische Untersuchungen, wie viele der Geflüchteten behandlungswürdige Erkrankungen haben. Das müssen wir schnellstmöglich herausfinden. Vermutlich braucht eine sechsstellige Anzahl psychosoziale Betreuung .
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Bajbouj: Wir empfehlen in unserer Stellungnahme unter anderem Peer-to-Peer-Interventionen. Dafür müsste man Menschen aus der Flüchtlingsgemeinschaft trainieren und zu psychosozialen Beratern machen. Die könnten anderen Flüchtlingen beibringen, wie man mit Stress umgeht und ihn vermeidet. Auch der Einsatz von digitalen Technologien kann helfen. Apps können Sprachbarrieren überwinden und vermitteln, wie man Stress reduzieren kann.
SPIEGEL ONLINE: Psychische Probleme einerseits, Flüchtlingsdasein andererseits - welche Gefahren ergeben sich, wenn beides zusammenfällt?
Bajbouj: Die Integration wird deutlich gehemmt. Vor einigen Tagen hatte ich eine Patientin, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und dem Sprachkurs nicht mehr folgen konnte.
SPIEGEL ONLINE: Angesichts der Flucht Hunderttausender Menschen aus Kriegsgebieten nach Deutschland waren solche Probleme doch absehbar. Warum wurde bisher nichts getan?
Bajbouj: Hier und da ist etwas getan worden, etwa in Berlin mit der zentralen Clearingstelle. Aber die Maßnahmen werden der Größe des Problems nicht gerecht. Es müsste viel mehr passieren. Zumal wir noch in der Phase sind, in der man mit vergleichsweise geringem Aufwand viel erreichen kann.
SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?
Bajbouj: Je mehr Zeit vergeht, desto aufwendiger werden die Behandlungen, desto größer wird das individuelle Leid.
SPIEGEL ONLINE: Was muss kurzfristig geschehen?
Bajbouj: Um die Größe des Problems zu ermitteln, brauchen wir vor allem flächendeckend Anlaufstellen, in denen Betroffene untersucht werden. Zudem sollten Peer-Berater ausgebildet und eingesetzt werden, dafür braucht es auch rechtliche Grundlagen.
SPIEGEL ONLINE: Stichwort Peer-Berater - die Stellungnahme empfiehlt, diese Menschen auch als Trauma-Berater einzusetzen, sie also entsprechend auszubilden und in Therapien einzusetzen. Wie groß ist das Risiko, dass die Qualität der Behandlung sinkt, wenn trainierte Laien mitmischen dürfen?
Bajbouj: Die Peers würden nicht die komplizierten Fälle behandeln. In unserem Modell würden sie bei leichten Fällen aktiv werden - unter Supervision und mit permanenter Begleitung. Wir werden nicht genügend Menschen helfen können, wenn wir darauf beharren, dass ausschließlich Psychiater und Psychotherapeuten tätig werden dürfen.
SPIEGEL ONLINE: In den komplizierten Fällen werden die aber vonnöten sein, der Bedarf ist absehbar groß. Wo sollen die zusätzlichen Therapeuten herkommen?
Bajbouj: Nur wer wirklich eine Traumatherapie benötigt, sollte beim Traumatherapeuten landen. Das würde Ressourcen freisetzen. Zudem muss die Abrechnung von Dolmetschern geregelt werden. Wenn deutschsprechende Traumatherapeuten nicht auf den Kosten für Dolmetscher sitzen bleiben, werden auch mehr von ihnen Flüchtlinge behandeln.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt ein bisschen nach Mangelverwaltung. Werden nicht trotzdem zusätzliche Therapeuten benötigt?
Bajbouj: Natürlich könnte man sagen: Es herrscht sowieso Therapeutenmangel, jetzt kommen noch Flüchtlinge hinzu - also muss man die Ausbildung hochfahren. Das wird wahrscheinlich so sein, aber solange wir keine vernünftige Bestandsaufnahme haben, können wir nicht sicher sein.
SPIEGEL ONLINE: Welche Gefahren drohen, wenn ihre Forderungen ungehört verhallen?
Bajbouj: Die Gefahr besteht, den Integrationsprozess deutlich zu verlangsamen und zu erschweren. Wer traumatisiert oder depressiv ist, wird keinen Job annehmen und keinen Sprachkurs absolvieren. Wenn Faktoren wie Traumatisierung, Alkoholmissbrauch, Perspektivlosigkeit und eigene Gewalterfahrung zusammenkommen, dann kann das auch die eigene Gewaltbereitschaft erhöhen. Ich schaue aber lieber auf die Chancen. Wir können jetzt neue Behandlungsmodelle entwickeln, die auch außerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft sinnvoll sind. Wir haben jetzt die Chance, Dinge zu erproben - und wegzukommen von der Sicht, dass jede Intervention einen Psychiater oder Psychologen erfordert.
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