Türkische Textilfabriken Tödlicher Sand in der Jeans-Maschine
Istanbul - Er sagt, früher einmal habe er jeden Tag Fußball gespielt, oben auf der Wiese, neben dem alten Holzschuppen, in dem die Truthähne stehen. Er sagt, jeden Tag habe er sich hier mit seinen Freunden getroffen. Sie hätten Pläne geschmiedet, große Pläne.
Sie hatten Träume: ein guter Job in Istanbul, Geld für die Familie verdienen, einen Fernseher kaufen, vielleicht sogar ein Auto und später dann eine Zukunft mit einer schönen Frau.
Nichts von alledem hat sich für Mustafa erfüllt. Der 23-Jährige steht auf dem Dorfplatz von Taslicay, einer jener bettelarmen Orte, wie sie typisch sind für diese zerklüftete Region in Ostanatolien. Er keucht, wenn er spricht. Er ringt um Luft. Das Gehen durch den tiefen Schnee fällt ihm schwer.
Noch vor drei Jahren konnte er mühelos den schweren Heukarren hoch ins Dorf ziehen. Da war er 20. Ein junger Mann, durchtrainiert, mit scharfen Gesichtszügen und schmalen Augen. Jetzt schafft er gerade mal zehn Schritte, dann muss er eine Pause einlegen. Mustafa ist sterbenskrank. "Die Ärzte haben gesagt, dass es kaum noch eine Heilungschance für mich gibt. Es gibt einfach keine Medikamente gegen diese Krankheit."
Vor zwei Jahren diagnostizierte ein Arzt aus dem rund 120 Kilometer entfernten Diyarbakir bei Mustafa eine schwere Silikose - im Volksmund auch Staublunge genannt. Durch das Aufnehmen von quarzhaltigen Ablagerungen bilden sich in dem Organ schwere Vernarbungen, die am Ende zum Tode durch Ersticken führen. Eine Krankheit, die in Taslicay und in den Nachbardörfern schon bei mehr als 100 jungen Männern festgestellt worden ist. Sieben von ihnen sind bislang gestorben.
Neben ihrer Herkunft verbindet die Opfer noch etwas: Alle Männer arbeiteten in Fabriken, die den europäischen Markt mit sogenannten Vintage-Jeans beliefern. Ein Look, der durch das Sandstrahlen der Hosenoberfläche entsteht und die Jeans alt und gebraucht aussehen lässt. In manchen Designer-Geschäften werden bis zu 300 Euro für das modische Gammel-Outfit verlangt.
Saftige Profite und sterbenskranke Arbeiter
Auch Abdulhalim, 28, hatte sich mit seinen Freunden von Taslicay auf den Weg nach Istanbul gemacht, um hier in einer der vielen Fabriken Geld zu verdienen. Mittlerweile haben die Ärzte bei ihm ebenfalls eine schwere Silikose diagnostiziert. Seine Lungenkapazität beträgt nur noch 60 Prozent.
Um die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen zu dokumentieren, verschaffte sich Abdulhalim im vergangenen September zusammen mit einem Mitstreiter Zutritt zu einer dieser Waschgaragen. Die beiden waren mit einer versteckten Kamera ausgerüstet und gaben sich als Jeans-Einkäufer aus. Die Bilder, die sie machten, zeigen einen Industriezweig, der neben saftigen Profiten auch noch etwas anderes hervorbringt: schwerkranke Arbeiter.
Deutlich erkennt man in dem Film, wie die Jeans in kammerähnlichen Hohlräumen in der Wand ausgelegt werden. In gleichmäßigen Bewegungen bestrahlen die jungen Männer die Hosen mit einem Hochdruckgerät. Solange, bis der blaue Jeans-Stoff heller wird und der gewünschte Vintage-Look entsteht. Dabei tragen sie weder ein Atemschutzgerät noch einen Sicherheitsanzug. Einige haben den Oberkörper frei. Der jüngste Arbeiter in dem Film ist 13. "Wenn du nicht aufpasst und du atmest das Zeug direkt ein, bist du tot", sagt Abdulhalim.
Bier und Buttermilch als Medizin
Auch er hatte anfangs bedenkenlos Jeans sandgestrahlt. Für einen Euro die Stunde, teilweise 16 Stunden am Tag. "Als es einigen von uns immer schlechter ging, kam der Vorarbeiter und sagte, wir sollten nach der Arbeit Bier oder Buttermilch trinken. Dadurch würden wir die giftigen Stoffe wieder ausscheiden. Wir hatten doch keine Ahnung, wie gefährlich dieser Sand ist."
Inzwischen sind die Silikose-Fälle in Istanbul dramatisch angestiegen. Anfangs standen die Mediziner vor einem Rätsel - Silikose ist normalerweise eine Berufskrankheit, die bei älteren Bergleuten oder Arbeitern in Metallwerken auftritt. In den vergangenen Jahren meldeten sich aber immer mehr junge Männer aus der Textilbranche mit starken Lungenbeschwerden.
Professor Zeki Kilicaslan, Leiter der Pneumologie in der Istanbuler Universitätsklinik, hat mittlerweile mehr als 700 Silikose-Patienten registriert. Das ist die offizielle Zahl, und "wir vermuten, dass die Dunkelziffer bei fünftausend Opfern liegt", sagt der Mediziner. "Manche jungen Männer trauen sich gar nicht zum Arzt, aus Angst, die Arbeit zu verlieren. Manche sind schon so schwer erkrankt, dass wir sie zum Sterben in ihre Dörfer zurückschicken müssen."
Der Arzt erklärt, durch das Sandstrahlen unter Hochdruck bilde sich "Silicium, dass sich in Verbindung mit Sauerstoff in Quarze verwandelt. Gerät das Mineral in die Lunge, bildet sich Gewebe, das zur Vernarbung der Lunge führt". Die Folgen: "Husten, Gewichtsabnahme, Sauerstoffmangel, im schlimmsten Fall tritt der Tod durch Ersticken ein. Silikose ist nicht heilbar."
"Es gibt keine Heilungschancen"
Eine Diagnose, die Professor Kilicaslan erst in der vergangenen Woche einem seiner Patienten stellen musste. Jetzt sitzt Mehmet Bekirbasak, 38, erneut im Behandlungszimmer des Arztes. Er hat in den vergangenen Monaten zwölf Kilogramm verloren. Er hustet Blut und kann nur leise sprechen. Der Befund ist eindeutig: schwere Silikose.
Professor Kilicaslan hält das Röntgenbild gegen das Licht. "Sie sehen, wie sich die weißen Stellen auf der Lunge verteilt haben. 70 Prozent der beiden Flügel sind geschädigt. Es gibt keine Heilungschancen."
Mehmet Bekirbasak kam vor zwölf Jahren aus Ostanatolien nach Istanbul. Sein Dorf lag im Hauptkampfgebiet der PKK. Er hatte die Wahl: schießen oder in Istanbul eine Arbeit suchen. "Ich weiß, dass es schlimm um mich steht. Und ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe. Die Fabrikleute hätten uns wenigstens auf die Gefahren hinweisen sollen - ich hätte mir doch die Schutzausrüstung selber besorgt. Aber denen ging es nur ums Geld. Die sagten immer: Arbeitet, dann passiert euch nichts."
Lautstark hatte sich Professor Zeki Kilicaslan für das Verbot der gefährlichen Sandstrahler eingesetzt. Doch die Resonanz bei den türkischen Behörden hielt sich bislang in Grenzen. Die meisten Wäschereien arbeiten in einer kaum zu kontrollierenden Grauzone.
Jährlich überschwemmen Hunderttausende Jeans-Imitate den europäischen Schwarzmarkt. Wird dennoch eine Kellerfabrik geschlossen, öffnet die nächste in einem anderen Stadtteil. Tausende junger Kurden werden so durch die Wäschereien geschleust, ohne Versicherung und ohne Arbeitsschutz. Es geht um viel Geld. Mit mehr als zehn Milliarden Euro Exportvolumen pro Jahr boomt das türkische Textilgewerbe.
Erste Demonstrantion
Ende vergangenen Jahres kam es in Istanbul zu den ersten Demonstrationen von Arbeitern und deren Unterstützern gegen die tödlichen Praktiken im Textilgewerbe. "Jeans werden aufgehellt, unser Leben wird verdunkelt", stand auf den Plakaten der Demonstranten. Inzwischen hat sich ein Solidaritätskomitee aus Gewerkschaftern, Anwälten und Menschenrechtlern gebildet, das die Interessen der betroffenen Arbeiter unterstützt.
Einen "schweren Kampf" erwartet Fulya Ayata, Aktivistin des Komitees. "Wir wollen die Unternehmer zwingen, dass sie uns sagen, von welchen internationalen Firmen sie Aufträge bekommen, die Jeans mit Sand strahlen zu lassen." Dem Solidaritätskomitee zufolge werden mit der Methode nicht nur Jeans-Plagiate bearbeitet. Angeblich sollen auch weltweit bekannte Textilunternehmen als Auftraggeber fungieren.
"Ihnen eine direkte Verbindung zu den Wäschereien nachzuweisen, ist kaum möglich", sagt Ayata. "Die meisten von ihnen arbeiten mit türkischen Subunternehmern zusammen. Wer von denen dann die Jeans in irgendwelchen Kellerlöchern sandstrahlen lässt, ist nur schwer nachzuweisen."