Überlastete Tafeln »Die Menschen brauchen uns, aber wir müssen ihnen sagen: Wir können dir nicht helfen«

Imke Georgiew leitet die Tafel in Potsdam. Sie befürchtet in der aktuellen Krise einen Zusammenbruch des Systems – und sieht Anzeichen, dass viele Menschen in die Armut abzurutschen drohen.
Ein Interview von Lisa Duhm
Ehrenamtliche bei der Tafel in Potsdam: »Unsere Mitarbeiter waren am Ende«, sagt Imke Georgiew

Ehrenamtliche bei der Tafel in Potsdam: »Unsere Mitarbeiter waren am Ende«, sagt Imke Georgiew

Foto: Soeren Stache/ dpa

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SPIEGEL: Frau Georgiew, Sie haben bei der Tafel Potsdam bereits im Juni den Notstand ausgerufen und einen Aufnahmestopp verhängt. Wie ist die Situation inzwischen bei Ihnen?

Georgiew: Der Aufnahmestopp gilt weiterhin. Wir versorgen als Tafel Potsdam jede Woche aktuell mehr als 1700 Menschen. Von März bis Mai waren es 3500, die wöchentlich kamen. Unsere 200 ehrenamtlichen Mitarbeiter haben Doppelschichten geschoben und waren am Ende. Da haben wir dann mit dem Aufnahmestopp die Reißleine gezogen und gesagt: Das können wir nicht mehr stemmen. Auch so kommen wir täglich an unsere Grenzen.

SPIEGEL: Das klingt nach einer andauernden Ausnahmesituation.

Georgiew: Wir haben hier seit Jahren einen Ausnahmezustand. Erst der Syrienkrieg, dann Corona, seit Ende Februar dann der Ukrainekrieg. Da kamen einfach immer mehr Menschen, Flüchtlinge vor allem. Denen wollten wir natürlich helfen und haben das auch sehr unbürokratisch getan. Am Anfang mussten sie noch nicht einmal den Kostenbeitrag zahlen, sie kamen ja ohne deutsches Geld her. Jetzt kommt der Winter, die Energiepreise explodieren und Lebensmittel werden teurer. Die nächste Krise. Die Menschen brauchen uns, aber wir müssen ihnen sagen: Wir können dir nicht helfen. Das ist so frustrierend.

Freiwilligen Helferinnen bei der Tafel in Potsdam: An Lebensmittelspenden mangelt es nicht

Freiwilligen Helferinnen bei der Tafel in Potsdam: An Lebensmittelspenden mangelt es nicht

Foto: Jens Kalaene / dpa

SPIEGEL: Wo hakt es?

Georgiew: Würden wir den Aufnahmestopp aufheben, stünden hier wahrscheinlich morgen 500 Menschen mehr vor unserer Tür. Lebensmittel und auch Ehrenamtliche hätten wir für sie tatsächlich genug. Unser Problem ist der Platz. Unsere Räumlichkeiten sind so begrenzt, dass wir höchstens mit 20, vielleicht 25 Mitarbeitern gleichzeitig das Essen sortieren und packen können. Damit können wir pro Tag für rund 300 Personen Essenskisten packen, das entspricht ungefähr 100 Kisten, mehr nicht. Unsere Kunden warten schon jetzt im Mittel zwei Stunden an der Ausgabe. Die Schlange geht die ganze Straße hinunter, die Leute stehen auf dem Präsentierteller. Und sie warten draußen, das ist auch körperlich anstrengend. Wir bräuchten eine größere Lagerhalle für die Lebensmittel und einen geschützten Raum für unsere Kunden.

»Es nimmt zu, dass Menschen herkommen, die nicht bei uns angemeldet sind. Einige werden wütend und beschimpfen uns.«

SPIEGEL: Es gibt so viel Leerstand. Wieso lässt sich keine andere Lösung finden?

Georgiew: Der Immobilienmarkt in Potsdam ist überschaubar, und bisher fühlte sich auch keiner so richtig zuständig, uns zu helfen. Jetzt kommt zwar etwas Dynamik in die Suche, aber der Markt gibt nicht viel her. Wir brauchen ja eine Halle von ca. 400 bis 500 Quadratmeter. Wenn sie auch als Ausgabestelle genutzt werden sollte, muss sie für die Kunden gut erreichbar sein. Und dann bleibt noch die Frage, wer es am Ende alles bezahlt. Der neue Standort benötigt Einbauten wie Kühlung, Tresen und so weiter. Und meine Aufgabe ist es außerdem, darauf zu achten, dass die Rahmenbedingungen für die Ehrenamtlichen gut sind. Ich kann sie nicht in irgendeiner heruntergekommenen Bruchbude arbeiten lassen, nur damit wir mehr Kisten packen. Unsere Ehrenamtlichen arbeiten in der Regel an einem festen Tag in der Woche, und dann ca. acht Stunden! Da muss schon alles drumherum einigermaßen passen, und Mindeststandards müssen eingehalten werden, sonst macht das keiner auf Dauer im Ehrenamt.

SPIEGEL: Was sagen Sie Menschen, die neu zu Ihnen kommen und um Essen bitten?

Georgiew: Neulich stand hier in der Sprechstunde eine jüngere Frau vor mir, die fragte: »Ist das hier die Tafel? Ich möchte mich gern anmelden.« Die hatte sich sichtlich überwunden, überhaupt hierherzukommen. Und dann musste ich ihr sagen, dass wir leider einen Aufnahmestopp haben. Da flossen gleich die Tränen. Ihre Hoffnung, mal ein kleines bisschen Luft zu kriegen, ist zerplatzt. Solche Momente sind sehr emotional, auch für uns Mitarbeiter. Es nimmt auch zu, dass Menschen herkommen, die nicht bei uns angemeldet sind. Einige werden wütend und beschimpfen uns. Das ist schwer auszuhalten. Und zukünftig wird es immer mehr Personenkreise treffen, die bisher noch gar nicht zur Tafel gehen.

»Hilft der Staat den Tafeln, hilft er auch seinen Bürgern.«

SPIEGEL: Tafeln in ganz Deutschland beklagen eine Überlastung, viele haben – wie Sie in Potsdam – einen Aufnahmestopp verhängt. Was muss geschehen, um sie zu entlasten?

Georgiew: Wenn nicht bald etwas passiert, dann bricht hier ein System zusammen. Eine große Anzahl von Menschen wird unter die Armutsgrenze fallen oder an ihrem Rand leben müssen. Ich verstehe nicht, warum die Politik nicht eingreift. Wir als Tafeln fühlen uns von der Regierung alleingelassen. Niemand kommt von staatlicher Seite zu uns, um uns unter die Arme zu greifen. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass wir jede neue Krise auffangen. Das Sozialamt und das Jobcenter schicken die Leute zu uns, wenn die beim Staat um Hilfe bitten. Wir dürfen dann ihre Wut und Verzweiflung auffangen. Wer uns hilft, das ist die Zivilgesellschaft. Das sind die Leute, die die Menschenschlange bei uns sehen und Geld spenden. Ohne die würde es gar nicht funktionieren.

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SPIEGEL: Was erwarten Sie von der Politik?

Georgiew: Es gibt so viele Instrumente, die man anwenden könnte. Wo bleibt die Deckelung der Energiepreise? Warum wird die Mehrwertsteuer für Lebensmittel nicht ausgesetzt? Das funktioniert in anderen Ländern doch auch. Und endlich eine institutionelle Förderung der Tafeln, damit sie ihre Logistik und Räumlichkeiten abgesichert haben. Hilft der Staat den Tafeln, hilft er auch seinen Bürgern, direkt und unbürokratisch.

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