Ukrainische Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof »Es ist einfach krass, so viel Leid zu sehen«

Hilfe am Berliner Hauptbahnhof: »Ohne die Freiwilligen dauert es ein bis zwei Stunden, dann herrscht am Bahnhof Anarchie, weil der Andrang so groß ist«
Foto: Stefan Trappe / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Herr Ghantus, wie ist die Lage am Berliner Hauptbahnhof?
Ghantus: Der Bahnhof ist im Grunde gerade wie die Grenze zur Ukraine. Es kommen weinende Kinder, Frauen, alte Männer, teilweise mit Verletzungen, manche mit ihren Katzen, Hamstern oder Hunden. Am Dienstag waren die Züge so voll wie nie zuvor, mit vielen Hundert Menschen pro Zug. Ich habe den Bahnhof noch nie so voll gesehen, es hat einfach nicht mehr aufgehört.
SPIEGEL: Zuletzt kamen pro Tag mehr als 10.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin an. Wer hilft den Menschen vor Ort?
Ghantus: Wir sind eine Gruppe von Menschen, die am Sonntag vor einer Woche auf den Bahnsteig gegangen sind und geguckt haben, ob jemand Hilfe benötigt. Wir haben gesehen: Die Menschen brauchen Verpflegung, Wasser. Es wurde eine Telegram-Gruppe gegründet, wir haben die Bevölkerung aufgerufen, zu helfen. Es ist eine organisierte Gruppe von Freiwilligen, es gibt keine Organisation oder keinen Verein. Viele, die in der Gruppe aktiv sind, haben ihr Leben pausiert, um zu helfen. Ich selbst bin am vergangenen Dienstag dazugestoßen.
SPIEGEL: Was tun Sie dort genau?
Ghantus: Wir begleiten die Menschen, die oben im Hauptbahnhof ankommen, hinunter in den Bereich, wo wir sie verpflegen können. Inzwischen kochen und verteilen wir kaltes und warmes Essen für Tausende Menschen täglich, wir haben ein Stillzelt, Hygieneartikel, eine Kleidersammlung, eine Bettenbörse, einen Kinderspielbereich. Wir sind 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche dort.
SPIEGEL: Auch nachts?
Ghantus: Ja, es kommen immer wieder Geisterzüge an, von denen niemand wusste, oder Menschen kommen vom Zentralen Omnibusbahnhof zum Hauptbahnhof und brauchen Hilfe oder einen Schlafplatz. Deshalb sind wir rund um die Uhr da.
SPIEGEL: Wie viele Helfende gibt es?
Ghantus: Die, die strukturieren und planen und koordinieren, sind so rund 20 bis 30. Und dann gibt es natürlich auch die, die übersetzen, Taschen tragen, Essen ausgeben, SIM-Karten oder Kleider ausgeben – alles, was eben gerade nötig ist. Und die Zahl ist – keine Ahnung, das wird in die Tausende gehen. Es kommen jeden Tag Leute, die neu sind, ich erkenne aber auch manche wieder. Bei uns engagieren sich Menschen aus sozialen Berufen, aber auch Klempner; ich weiß von einer Psychotherapeutin, einem Ex-Soldaten, einem Bäcker, vielen Musikern. Es sind viele aus der Veranstaltungsbranche – so wie ich auch. Ich bin selbstständiger Tonmeister – es ist Pandemie, daher kann ich eh nicht arbeiten.
SPIEGEL: Was ist Ihre Rolle vor Ort?
Ghantus: Ich gehöre zu der Kerngruppe, kümmere mich um die Logistik und die Verteilung der Freiwilligen und bin Ansprechpartner für die Bahn, die Telekom und so ziemlich alle eigentlich.
SPIEGEL: Wie oft und lange arbeiten Sie?
Ghantus: Meine Schichten sind 12 bis 16 Stunden lang, ich versuche aber, nicht mehr als zehn bis zwölf zu machen, um helfen zu können. Das sagen wir auch allen: Ihr könnt nicht helfen, wenn ihr nicht fit seid – ihr müsst essen, schlafen, Pausen machen.
SPIEGEL: Wie geht es Ihnen?
Ghantus: Ich achte auf mich, ich versuche, genug zu schlafen. Ich sehe aber auch Leute, die ausbrennen. Auch Helfende weinen hier immer wieder. Es ist einfach krass, wenn man es nicht gewohnt ist, so viel Leid zu sehen. Im Kernteam gibt es einige, die sagen: Ich bin morgen noch da, aber dann packe ich es nicht mehr.
SPIEGEL: Welche Probleme haben Sie?
Ghantus: Zum Beispiel die Sache mit den Toiletten. Die muss man bezahlen, die Bahn hat uns dafür Säcke mit Münzen gegeben, die wir an die Menschen verteilt haben. Nach zwei Stunden waren 500 Münzen weg, aber dann hieß es, wir dürften die Münzen nicht verschenken. Deshalb wurden die Münzen danach von der Bahn ganz unten im Bahnhof ausgegeben – die Leute mussten von oben, wo die Züge ankommen, nach unten, holten ihre Münze, und mussten dann wieder hoch, um zu pullern. Das hat die Bahn zwei Tage lang so gemacht. Jetzt sind die Klos einfach offen. Die Bahn kümmert sich und es ist sauber, aber es ist ein Beispiel dafür, wie der Apparat versucht, Normalität herzustellen, in einer Situation, die überhaupt nicht normal ist.
SPIEGEL: Die Stadt hat nun ein Zelt am Bahnhof errichtet, in dem die Flüchtlinge ankommen sollen.
Ghantus: Ja, es ist gut, dass das da ist. Aber ich fürchte, das wird nicht reichen. Ohne die Freiwilligen dauert es ein bis zwei Stunden, dann herrscht am Bahnhof Anarchie, weil der Andrang so groß ist. Wir alle freuen uns, wenn wir nach Hause gehen können. Aber wir werden so lange bleiben, bis die Stadt die Leute versorgen kann.