
Imam Rauf und Daisy Khan: Vereitelte Versöhnung an Ground Zero
US-Muslime nach 9/11 "Ich fühlte mich wie ein Beutetier"
Der erste Gedanke, den Feisal Abdul Rauf am 11. September 2001 hatte, war ein spontanes Stoßgebet: "Wir hofften", erinnert er sich, "dass das keine Muslime waren."
Rauf und seine Ehefrau Daisy Khan waren an jenem Tag 3000 Kilometer von New York entfernt, wo der Imam eine Moschee in Tribeca leitete. Sie hatten gerade in der Bergidylle Colorados die Hochzeit ihrer Tochter gefeiert. Erst wusste keiner, wer hinter den Anschlägen steckte. Raufs Bruder tippte auf Serben.
Als klar wurde, dass es sich um islamische Extremisten handelte, war Rauf "furchtbar empört und enttäuscht". Und beunruhigt: "Wir hatten die große, große, große Sorge, dass dies für unsere Gemeinschaft gar nicht gut ist."
Dass die Anschläge ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würden, das hatten sie allerdings nicht erwartet.
Imam Rauf ist ein Mann der leisen Töne, den nichts aus der Ruhe bringt. Während seine Sekretärin Kaffee serviert, in einer mit einem Weihnachtsbaum verzierten Tasse, stockt er minutenlang vor dem nächsten Wort, als suche er eine Formulierung oder verliere sich in Gedanken.
Doch das, was er in den vergangenen Jahren erlebt hat, schreckt selbst ihn auf. "So etwas habe ich noch nie gesehen, und ich lebe seit 46 Jahren hier", sagt er. "Manchmal macht man diese Sachen mit und denkt dann nur: Oh mein Gott…" Seine Stimme versiegt.
"Ich wollte das Loch nicht sehen"
Feisal Abdul Raufs Abenteuer begann mit 9/11 und ist noch längst nicht zu Ende, doch so richtige Berühmtheit erlangte er voriges Jahr - wider Willen. Da kannte ihn die ganze Welt als den Imam, der die "Ground-Zero-Mega-Moschee" bauen wollte und dafür politisch gekreuzigt wurde. Dabei war der geplante Bau weder mega noch eine Moschee noch lag er am Ground Zero. Aber Fakten zählten damals nicht.

11. September 2001: Der Tag des Schreckens
Wie es dazu kam und was sich wirklich abgespielt hat, ist in dem Geschrei jener Wahlkampfmonate untergegangen. Auch Rauf und Khan sehen erst jetzt klar, mit Abstand. Jeder Beteiligte hat sicher seine eigene Interpretation, aber fest steht: Die Odyssee des Paars ist ein Beispiel für das, was seit 9/11 schief gelaufen ist in Amerika - und eine beklemmende Parabel zum zehnten Jahrestag.
Geboren in Kuwait, aufgewachsen in Malaysia und Großbritannien, engagierte sich der Kleriker Rauf lange vor 2001 für einen Dialog zwischen dem Islam und dem Westen. 1997 gründete er die American Society for Muslim Advancement (Asma), die einen eher progressiven Islam propagiert. Sein Traum ist ein multikonfessionelles Zentrum, wofür er 1999 ein altes YMCA-Haus in Chelsea kaufen wollte. Leider fehlte ihm das Geld, der Bau wurde zu einem VIP-Sportstudio umfunktioniert.
Daisy Khan, seine dritte Gattin, heiratete er 1996. Khan war mit 16 Jahren aus Kaschmir in die USA gekommen, wo sie Design studierte und als Innenarchitektin arbeitete. Von 1987 bis 1990 war sie Projektmanagerin bei Lehman Brothers im Südturm des World Trade Centers, im 106. Stock. Einmal gab es da einen Stromausfall, und sie mussten sich alle im Dunkeln zu Fuß über die Treppen tasten. "Als ich die Bilder vom 11. September sah", sagt sie, "ahnte ich, wie das gewesen sein muss."
Sie sahen diese Bilder im fernen Colorado im Fernsehen, aber sie fühlten sich ganz nah. "Das war unsere Nachbarschaft, die angegriffen wurde", sagt Khan. "Das war sehr persönlich."
Da alle Flüge gestrichen waren, fuhren sie mit dem Mietwagen zurück. Überall spürten sie Ressentiments gegen Muslime, wenn nicht offenen Hass. "Ich habe mein Leben damit verbracht, die Beziehungen zu verbessern", sagt Rauf seufzend, "und so ein Ereignis wirft einen dann wieder so zurück."
Daisy Khan brauchte sieben Jahre, bis sie Ground Zero erstmals besuchte: "Ich wollte das Loch nicht sehen." Sie gab ihre Karriere auf und übernahm die Führung der Asma, sie wollte an dem Projekt Versöhnung mitwirken.
2009 ergab sich eine Gelegenheit: Ein befreundeter Investor erwarb ein altes Kaufhaus, zwei Straßen von Ground Zero entfernt. Es war am 11. September 2001 schwer beschädigt worden, als ein Flugzeug-Fahrwerk durchs Dach gebrochen war.
"Wie ein Opferlamm"
Rauf hoffte, auf dem Gelände des abbruchreifen Gebäudes seine Vision verwirklichen zu können: Begegnungszentrum, Gebetssaal, Museum, Seminare zur Aussöhnung der Religionen. Im Dezember 2009 berichteten die "New York Times" und SPIEGEL ONLINE über die Pläne. Keiner regte sich auf. "Kein Mucks", sagt Rauf.
Und dann kam der Kongresswahlkampf. Im Mai 2010 stürzte sich die Angriffsmaschinerie des konservativen Medienmoguls Rupert Murdoch auf das Projekt. Fox News und die Lokalzeitung "New York Post" brandmarkten es als "Mega-Moschee am Ground Zero" und Rauf als "Ground-Zero-Imam" - eine haarsträubende Verzerrung, die sich aber sofort durchsetzte, auch bei vielen anderen Mainstream-Medien.
Trotz Unterstützung durch New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg begannen prominente Republikaner, gegen das Vorhaben zu polemisieren. Es sei eine "Provokation", twitterte Sarah Palin. Opferfamilien erhoben ebenfalls Einspruch. Raufs Worte wurden aus dem Zusammenhang gerissen, seine Frau musste sich in Talkshows anschnauzen lassen. In Florida drohte der Pastor Terry Jones mit der Verbrennung von 200 Koranen, was zu tödlichen Protesten im Nahen Osten führte.
"Wir wussten nicht", sagt Khan, "dass es so gut organisierte Gruppen gibt, die Muslime wie uns scheitern sehen wollen. Sie wollen die Angst vor dem Islam aufrechterhalten. Sie sind bestens finanziert und haben gute Resourcen."
Der Widerstand verschmolz die politischen Machtinteressen der Tea Party mit den Interessen rassistischer und islamfeindlicher Randgruppen. Denn die Kampagne richtete sich in Wahrheit nicht gegen Rauf, sondern gegen US-Präsident Barack Obama - obwohl der das Projekt nur halbherzig guthieß.
Flankenschutz kam aus jedem US-Bundesstaat und 45 Ländern. Bürgerrechtsgruppen und Ex-Präsident Bill Clinton unterstützen Rauf. Die Medienmacherin Arianna Huffington ehrte ihn als "Visionär". Ein Mann flüsterte Khan im Aufzug zu, er schäme sich für sein Land.
"Es hat sehr weh getan. Aber es gibt auch Kraft"
Was da wirklich gebaut werden sollte, stand jedoch nie in Frage. Vielmehr war die Debatte geprägt von Vorurteilen, Angst, Polemik, Hass, Polit-PR. Auch das unbewältige 9/11-Trauma brach immer wieder durch. "Die Wahrheit war nebensächlich", sagt Rauf. "Es ging um eine politische Agenda."
Was sich auch daran bewies, dass der "Moschee"-Streit kurz vor den Kongresswahlen so schnell erstarb, wie er ausgebrochen war. Rauf und Khan blieben wie betäubt auf dem Schlachtfeld zurück. Monatelang waren sie angefeindet worden, als verkappte Radikale, als Agenten islamischer Extremisten. "Ich fühlte mich wie ein Beutetier", sagt Rauf. "Wie ein Opferlamm."
"Die rosa Brille, die ich mein ganzes Leben lang aufgehabt hatte, war plötzlich weg", erzählt Khan. "Und ich sah eine andere Seite von Amerika, die ich noch nie gesehen hatte." Zum ersten Mal habe sie gespürt, was es heiße, diskriminiert zu werden. "Es hat sehr wehgetan, auf persönlicher Ebene. Aber es hat uns auch die Kraft gegeben, weiterzukämpfen."
Sie versucht der Situation zu trotzen. "Es heißt doch, dass alles Leid auch ein Segen ist", sagt sie. "Denn du lernst viel über dich selbst."
Heute umgibt sie sich mit Mementos dieses Lernprozesses. Ein Foto, das sie mit Clinton zeigt. Der gerahmte erste Artikel aus der "New York Times". Eine Urkunde der Quäker: "Wir stehen an der Seite der Muslime Amerikas."
Der Wirbel hat sich gelegt. Rauf und der Investor haben sich getrennt, der Imam hofft nun, anderswo eine Immobilie zu finden. "Ich bin optimistisch." Er macht eine lange Pause. "Der Traum", sagt er dann, "lebt fort."