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Indigene Frauen in Nordamerika: Vermisst in der Weite

Foto: David Goldman/ AP

Indigene Frauen in Nordamerika Die Verschwundenen und die Ermordeten

Wo ist unsere Schwester, Tochter, Mutter? Indigene Frauen in den USA werden besonders häufig ermordet oder vermisst gemeldet. Familien suchen selbst nach verschwundenen Angehörigen - wie im Fall von Ashley HeavyRunner Loring.

Der Suchtrupp durchstöbert den verlassenen Wohnwagen, dreht eine ramponierte Couch um, rollt ein dreckiges Laken aus, sucht nach Hinweisen. Es ist glühend heiß, ein Grizzlybär lauert im Gestrüpp und knurrt bedrohlich. Doch die Gruppe macht weiter - weil ein geliebter Mensch noch immer vermisst wird.

Das letzte Lebenszeichen von Ashley HeavyRunner Loring, 20, Mitglied des amerikanischen Ureinwohnerstammes Blackfeet Nation (Schwarzfüße), gab es am 8. Juni 2017. Seitdem sucht ihre ältere Schwester Kimberly nach ihr - mit Hilfe von Freunden, Bekannten und Verwandten.

"Ich bin die ältere Schwester. Ich muss das tun", sagt die 24-Jährige einem Team der Nachrichtenagentur AP. "Ich will nicht suchen, bis ich 80 bin. Aber wenn ich muss, werde ich das tun."

Kimberly kann nicht das komplette, gut 6000 Quadratkilometer große Blackfeet-Reservat im US-Bundesstaat Montana an der Grenze zu Kanada durchkämmen - eine Fläche mehr als doppelt so groß wie das Saarland.

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Indigene Frauen in Nordamerika: Vermisst in der Weite

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Ashleys Verschwinden ist ein kleines Kapitel in der beunruhigenden Geschichte von vermissten und ermordeten Frauen und Mädchen aus der indigenen Bevölkerung. Niemand weiß genau, wie viele es sind. Einige Fälle werden nicht gemeldet, andere nicht gründlich dokumentiert. Der Staat erfasst die Fälle nicht.

In Zeiten von #MeToo gewinnt das Schicksal der Ureinwohnerinnen an politischer Bedeutung. Sie werden überproportional häufig Opfer von Mord, sexueller und häuslicher Gewalt.

"Ein Mensch, der geliebt wurde"

Annita Lucchesi, Kartografin und Mitglied des Cheyenne-Volksstamms, hat eine Datenbank von vermissten und getöteten indigenen Frauen aus den USA und Kanada erstellt. Bislang umfasst die Liste von bislang etwa 2700 Namen.

Er könne sich keinen einzigen Bekannten vorstellen, der keinen solchen Fall aus seinem Bekanntenkreis kenne, sagt Ivan MacDonald, Schwarzfuß und Filmemacher. "Diese Frauen sind nicht bloß Statistiken. Sie sind Großmutter, Mutter, Tante, Tochter. Ein Mensch, der geliebt wurde."

MacDonald und seine Schwester Ivy haben kürzlich einen Dokumentarfilm über indigene Frauen in Montana produziert, die verschwunden sind oder getötet wurden. Auch ihre Cousine Monica verschwand 1979 im Alter von sieben Jahren aus einer Reservatschule. Ihre Leiche wurde 20 Meilen entfernt auf einem Berg gefunden. Niemand wurde in dem Fall je festgenommen.

Oft herrscht Frust über die Reservat-Polizei und Bundesbehörden - und ein Gefühl, dass viele Fälle nicht mit der nötigen Dringlichkeit oder Gründlichkeit behandelt werden. Warum ist das so? "Es läuft auf Rassismus hinaus", sagt MacDonald. "Der Regierung ist es letztlich scheißegal."

Tim Purdon, ehemaliger Staatsanwalt in North Dakota, spricht von einem Dickicht sich überschneidender Zuständigkeiten und verschiedenen Gesetzen - abhängig von der Straftat, wo sie geschah (in einem Reservat oder nicht), und ob ein Stammesmitglied Opfer oder Täter ist.

In den Reservaten fungieren Stammespolizei und Ermittler des Bureau of Indian Affairs, einem dem Innenministerium unterstellten Amt für Angelegenheiten der Ureinwohner, als Strafverfolgungsbehörden. Bestimmte Straftaten untersucht aber auch das FBI. Und wenn es umfangreiche Beweise gibt, verfolgt das US-Justizministerium schwere Verbrechen wie Mord, Entführung und Vergewaltigung.

"Wohin gehe ich, um eine Vermisstenmeldung zu machen?", fragt Purdon. "Zur Stammespolizei? An manchen Orten ist sie unterfinanziert und nicht ausreichend geschult. Das FBI? Vielleicht will es helfen, aber ein Vermisstenfall ohne Anzeichen für eine Straftat ist kein Verbrechen. Er ist vielleicht nicht in der Lage, eine Ermittlung einzuleiten. Wende ich mich an einen der Sheriffs im Bezirk?"

Sarah Deer ist Professorin an der Universität von Kansas, Autorin eines Buches über sexuelle Gewalt in Reservaten und Mitglied des Muscogee-Stammes. Sie bietet eine weitere Erklärung für die hohe Zahl der Vermissten und Ermordeten: Ureinwohnerinnen seien lange Zeit als unsichtbar und wegwerfbar in der Gesellschaft betrachtet worden. Diese Verletzbarkeit ziehe Verbrecher an. "Das gilt besonders für Frauen mit Suchtproblemen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Erkrankungen", sagt Deer.

Nachforschungen auf eigene Faust

Indigene Familien beklagen, dass Behörden Berichte über vermisste Frauen nicht ernst nähmen und sich die Suche oft verzögere. "Sie beschämen die Leute beinahe, die Vermisstenfälle melden", sagt Carmen O'Leary, Direktorin der Native Women Society of the Great Plains, eines Zusammenschlusses indigener Frauen.

Die Konsequenz: Einige Familien stellen ihre eigenen Nachforschungen an. So verbrachte Matthew Lone Bear neun Monate damit, nach seiner älteren Schwester Olivia zu suchen - unter anderem mit Drohnen. Die 32-jährige Mutter von fünf Kindern war zuletzt gesehen worden, als sie am 25. Oktober 2017 in der Innenstadt von New Town in North Dakota in einem Chevy Silverado unterwegs war.

Am 31. Juli 2018 fanden freiwillige Helfer den Wagen mit Olivias Leiche in einem See, weniger als eine Meile von ihrem Haus entfernt. Das Gewässer sei früher schon einmal durchsucht worden, sagt ihr Bruder, aber "offensichtlich nicht gründlich".

Die Behörden hätten die Suche nach seiner Schwester nur zögerlich begonnen, sagt Matthew Lone Bear. Inzwischen untersucht das FBI Olivias Tod.

"Lückenhaft dokumentiert"

Savanna LaFontaine-Greywind, 22, wurde 2017 ermordet, im achten Monat schwanger. Ihre Leiche wurde in einem Fluss gefunden, in Folie und Klebeband eingewickelt. Ein Nachbar in Fargo, North Dakota, hatte ihr das Baby aus dem Bauch geschnitten. Das Kind überlebte. Der Nachbar, der sich schuldig bekannte, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. LaFontaine-Greywinds Freund muss ich ebenfalls vor Gericht verantworten.

In einer Rede im US-Senat erzählte die Demokratin Heidi Heitkamp im vergangenen Herbst die Geschichten von vier anderen Ureinwohnerinnen aus North Dakota, deren Tod noch ungeklärt war. Sie zeigte Fotos von ihnen und prangerte Gewalttaten an, die "unbemerkt geblieben, nicht gemeldet oder lückenhaft dokumentiert" worden seien.

Ihr Gesetzentwurf "Savanna's Act" zielt darauf ab, den Zugang der Stämme zu bundesweiten Kriminalitätsdatenbanken zu verbessern. Er sieht auch vor, dass das Justizministerium eine Regelung entwickelt, um auf Fälle von vermissten und ermordeten Ureinwohnern zu reagieren, und dass die Regierung eine jährliche Statistik über diese Fälle erstellt.

"Wir müssen zusammenhalten"

Ende 2017 machten Ureinwohner 1,8 Prozent der Vermisstenfälle in der Datenbank des National Crime Information Center des FBI aus, obwohl sie nur 0,8 Prozent der US-Bevölkerung stellen. In manchen Bundesstaaten ist das Verhältnis noch drastischer. In Montana machen Ureinwohnerinnen - 3,3 Prozent der Bevölkerung - 30 Prozent der Vermisstenfälle aus.

Kimberly Loring hat die Suche nach ihrer Schwester an ein Versprechen erinnert, das sie Ashley gegeben hatte, als ihre Mutter mit Drogenproblemen kämpfte und die Mädchen kurz in einer Pflegeeinrichtung lebten. Kimberly war damals acht, Ashley fünf.

"Wir müssen zusammenhalten", sprach sie ihrer kleinen Schwester damals Mut zu. "Ich sagte ihr, dass ich sie nie verlassen würde. Und wenn sie irgendwohin ginge, würde ich sie finden."

Im Video: US-Ureinwohnerin vs. Donald Trump

Deutsche Welle
wit/AP
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