Videoüberwachung in Berlin Kameras außer Kontrolle

Videokamera (an künftigem BND-Sitz in Berlin): Achtung, Aufnahme!
Foto: DDPBerlin - Die Ausgangslage ist eigentlich günstig für Freunde des Datenschutzes. Berlin hat sich strenge Vorschriften für die Videoüberwachung auferlegt. Die Hauptstadtpolizei darf im Gegensatz zu Kollegen vieler anderer Bundesländer im öffentlichen Raum nicht permanent filmen - von "gefährdeten Objekten" wie Regierungsgebäuden oder Synagogen einmal abgesehen.
Der deutsche Staat ist in seinem politischen Zentrum nicht nur arm und sexy - sondern auch ziemlich hart zu sich selbst.
Dennoch schössen in Berlin seit Jahren Videokameras "wie Pilze aus dem Boden", schrieb ein Forscherteam der Technischen Universität um den Politologen Eric Töpfer schon 2003 in der bislang einzigen systematischen Untersuchung des Themas ("Watching the bear"). Zehntausende elektronische Augen glotzten mittlerweile aus Spielhallen, Juweliergeschäften, Banken, Dönerbuden und Einkaufspassagen auf die Berliner. Und in fast 70 Prozent der Fälle würden die Gefilmten noch nicht einmal über die Aufnahmen informiert, stellte Töpfer fest.
Auf SPIEGEL-ONLINE-Anfrage konnten weder Innensenator Ehrhart Körting (SPD) noch der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix sagen, wie viele Kameras es insgesamt in der Stadt gibt. Nicht einmal die Zahl jener Anlagen ist ermittelbar, die von öffentlicher Stelle betrieben werden. Denn sie werden von verschiedensten Institutionen unterhalten - Bahn, Berliner Verkehrsbetrieben, Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Landespolizei etc.
Den Überblick hat niemand mehr.
Flut von Bildern
"Viel massiver als die Polizei filmen in Berlin inzwischen Privatleute und Unternehmen", sagt Datenschützer Dix SPIEGEL ONLINE. Zwar gälten auch für sie die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes - doch "wir haben hier ein klares Vollzugsdefizit. Das macht uns Sorgen." Es werde "eine Flut von Bildern" produziert, und niemand wisse mehr, was die Aufnahmen zeigen und was mit ihnen geschieht. "Und ich sehe auch keine Lösung für dieses Problem", sagt Dix.
Aktivisten des "Seminars für angewandte Unsicherheit" reagieren seit einiger Zeit im Kleinen auf die Überwachungswut. Mit Kameraspaziergängen durch Berlin wollen sie die Bürger dafür sensibilisieren, dass sie bei jedem Einkaufsbummel inzwischen von Dutzenden elektronischer Augen beobachtet werden. Häufig sind die Signale der Funkkameras nicht mal verschlüsselt, das haben die Berlin-Streifengänger festgestellt. Interessierte Tüftler können viele Aufnahmen leicht abgreifen.
"Zahlreiche Anlagen sind nicht entsprechend gesichert", sagt Sven Lüders, Geschäftsführer der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. Er sieht den Staat in der Pflicht, von den Betreibern der Videoanlagen "endlich entsprechende Standards einzufordern". Die Polizei mache es sich sehr leicht, indem sie zwar bei der Aufklärung von Straftaten auf private Filmaufnahmen zurückgreife - jedoch keine Verantwortung für deren rechtmäßigen Betrieb übernehme.
Zahl der Kameras soll sich verdoppeln
Gerne zur Strafverfolgung genutzt werden auch die Videokameras der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Deren Zahl soll sich in den kommenden Jahren noch fast verdoppeln: Aus einer Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus geht hervor, dass schon heute mehr als 6400 Elektroaugen die Fahrgäste beobachten.
Jedoch findet nach BVG-Angaben so gut wie keine Live-Überwachung statt, sondern lediglich eine Aufzeichnung der Bilder, für die strenge rechtliche Vorgaben gelten. So gebe es überhaupt nur fünf Mitarbeiter, die Zugang zu den Aufnahmen hätten, sagt Sprecherin Petra Reetz. Außerdem müssten diese alle 24 Stunden überschrieben werden. "Nicht immer allerdings reicht die gesetzlich vorgegebene Zeit aus." Die Polizei könne zuweilen die Bilder nicht rechtzeitig sichern, die Aufklärung von Straftaten werde dadurch erschwert.
Umstritten ist auch in Berlin die grundsätzlich abschreckende Wirkung der Kameras. Fachleute wie Töpfer und Lüders gehen davon aus, dass elektronische Überwachung keine oder nur sehr wenige Straftaten verhindert - sie verweisen auf entsprechende Erfahrungen aus anderen Ländern. Innensenator Körting dagegen vertraut nach Angaben seiner Staatssekretärin auf "die volle präventive Wirkung" der Technik.
Illusion von Sicherheit
Alle warten nun auf die Ergebnisse einer Evaluation, die nach einigem politischen Hickhack bald bei den BVG beginnen soll. Eine erste Studie war vorzeitig abgebrochen worden - wegen eines Zerwürfnisses mit dem Gutachter, teilen die Verkehrsbetriebe mit. Sie weisen Mutmaßungen zurück, die Erkenntnisse des Wissenschaftlers seien politisch nicht opportun gewesen: "Daran lag es nicht", sagt Sprecherin Reetz. Überhaupt seien "80 Prozent der Kunden zufrieden mit den Kameras".
Trotzdem warnt Bürgerrechtler Lüders vor der trügerischen Illusion von Sicherheit, die Kameras im öffentlichen Raum erzeugen. "Die meisten Menschen denken doch: Dahinter sitzt jemand, der im Notfall schon helfen wird. Aber das ist eben nicht so." Auch Datenschützer Dix ist sich sicher: "Wenn man mehr Sicherheit will, muss man mehr Personal einsetzen. Kameras sind kein Allheilmittel."
Sie sind nur billig.