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New York: "Irgendwer guckt immer zu"

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Videoüberwachung in New York "Irgendwer guckt immer zu"

Auf den Straßen New Yorks wimmelt es vor Überwachungskameras, Tausende Glasspione filmen jeden Schritt der Bürger. Jetzt soll das System zum Terrorschutz sogar noch verstärkt , die Stadt zum Spähbunker ausgebaut werden. Bürgerrechtler laufen Sturm - vergeblich.

Wenn Donna Lieberman die nicht einmal 50 Meter von ihrem Büro zur Straßenecke geht, wird sie bei jeder Bewegung von einem guten Dutzend Videokameras beäugt. "Ich lebe", seufzt die New Yorkerin, "in einer täglichen Reality-Show."

Diese Show fängt in der Lobby an, wo eine Linse über der Drehtür lauert. Draußen hängt gleich noch eine, dann eine etwas höher an der Fassade des Wolkenkratzers, in dem Lieberman arbeitet. Zwei offenbaren sich bei genauerem Hinsehen direkt gegenüber, zwei weitere links, zwei weitere rechts, und an der Kreuzung von Broad Street und Water Street wimmelt es vor Glasspionen.

Zugegeben: Lieberman, die Direktorin der Bürgerrechtsorganisation NYCLU, arbeitet in der am schärfsten überwachten Ecke New Yorks. In keinem Viertel der Acht-Millionen-Stadt werden die Passanten von mehr Kameras ausgespäht als hier an Manhattans Südspitze, im Finanzbezirk um die Wall Street. Selbst im Starbucks-Laden unweit der Börse starren drei Objektive über die Barista-Theke.

Keine Kamera gleicht der nächsten. Sie sehen aus wie Nachttischlampen, Alien-Augen, "Star Wars"-Roboter, Insektenpupillen, Bienenwaben oder einfach nur wie Kameras. Büros, Bars, Cafés, Restaurants, Schulen, Krankenhäuser, Museen, die U-Bahn (in der sich allerdings die meisten Elektroaugen als defekt entpuppt haben) - keine Ecke New Yorks ist objektivlos. Einer der wohl bezeichnendsten Fälle: Zwei Riesenkameras an der Südfassade der US-Notenbank, gleich hinter dem Schild der Liberty Street - der Straße der Freiheit.

Die grenzenlose Freiheit des Ausspähens

missglückten Bombenanschlag am Times Square

Schöne Freiheit: Die grenzenlose Freiheit des Ausspähens. Wie weit darf die gehen? Es ist eine alte und doch unvermindert aktuelle Frage, die sich die New Yorker seit dem im Mai wieder stellen. Gute Antworten gibt es bisher freilich keine - nur die triste Einsicht: Die Zahl der Kameras steigt rasant.

Die NYCLU zählte in Manhattan allein südlich der 14. Straße genau 4176 Kameras - und das war vor fünf Jahren, bei der letzten verlässlichen Studie. 1998 waren es noch 769, ein Anstieg um 443 Prozent in sieben Jahren. Im Wall-Street-Bezirk hat sich die Zahl im selben Zeitraum fast verdreifacht, von 446 auf 1306.

Wie viele Linsen es heute wirklich sind, darüber lässt sich nur noch spekulieren. Weder das New York Police Department (NYPD) noch die Stadtverwaltung geben Statistiken bekannt, es gibt keine zentrale Sammelstelle oder Behörde, die diese Rundum-Überwachung koordiniert. Die meisten Kameras werden sowieso privat betrieben und sind daher für Gesetzgeber oder Bürgerrechtsgruppen nur schlecht zu kontrollieren.

"Wir waren schockiert, einfach schockiert", sagt Lieberman über die Erkenntnisse ihrer Organisation. "Irgendwer guckt immer zu." Das Schlimmste dabei: "Es gibt absolut keine Aufsicht." Die Späher spähen völlig unkontrolliert. Big brother is filming you.

"Kameras helfen nach der Tat und als abschreckendes Mittel"

Und das soll jetzt sogar noch viel drastischer werden. Seit dem verhinderten Times-Square-Anschlag wollen Lokalpolitiker, allen voran Bürgermeister Mike Bloomberg, die Überwachung drastisch ausweiten. "Es gibt nichts Wichtigeres, als die New Yorker vor einem Attentat zu beschützen", erklärte der demokratische Senator Chuck Schumer, der mindestens 30 Millionen Dollar an zusätzlichen Investitionen in das Kamerasystem fordert.

An diesem Vorstoß ändert wenig, dass London, als globaler Vorreiter der Videoüberwachung, langsam wieder kameramüde wird. Auch nicht, dass das Attentat am Times Square von den mehr als 80 Kameras ringsum weder verhindert noch aufgeklärt wurde - es war altbewährte Detektivarbeit, die dafür sorgte.

"Times Square ist ein gutes Beispiel, warum diese Kameras nichts bringen", sagte John Verdi von der auf elektronische Überwachung spezialisierten Aktivistengruppe Electronic Privacy Information Center (EPIC) dem TV-Sender ABC. "Er ist mit Kameras übersät, doch keine davon half, das Attentat zu vereiteln."

Dennoch reiste Bloomberg kürzlich eigens nach London, um sich bei seinem dortigen Amtskollegen Boris Johnson Rat zu holen. Bloombergs Schlussfolgerung stand da schon vorher fest: "Kameras helfen nach der Tat, und sie helfen als abschreckendes Mittel."

"Wir sind längst die totale Überwachungsgesellschaft"

Londons "Ring of Steel", ein Hightech-Kordon aus schätzungsweise einer Million Kameras, ist Vorbild für das, was Bloomberg jetzt auch in New York vorhat. Das Wall-Street-Viertel, das Herz der Weltfinanz, dient als Testgelände. Hier hat das Projekt, Lower Manhattan Security Initiative genannt, längst seine Räume bezogen, am Broadway, die Börse direkt um die Ecke. Gemeinsam mit Privatfirmen will die Stadt am Ende mehr als 3000 neue Kameras allein in Süd-Manhattan installiert haben.

Diese Kameras sind viel moderner und leistungsstärker als ihre Vorgänger. Sie sollen sogar Gesichter identifizieren können. Hinzu kommen elektronische Lesegeräte für Nummernschilder, Strahlenmesser und, so Polizeichef Ray Kelly, "analytische Software".

Fast hundert Millionen Dollar soll das neue System kosten, gesteuert würde es zentral von einem Bunker aus. Zehn Millionen Dollar davon will das US-Heimatschutzministerium übernehmen.

Als nächstes im Videovisier: Midtown. Dort haben viele Wall-Street-Firmen ihren Sitz, seit sie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 aus Lower Manhattan geflohen sind - jener Wendepunkt, mit dem die "Terror-Dollar" (Lieberman) nach New York zu fließen begannen und die Stadt zur Festung wurde.

Die Polizei argumentiert mit gesunkenen Kriminalitätsraten

Kritiker - zu denen nicht nur Linksliberale gehören, sondern auch libertäre Konservative - halten das für Heuchelei. "Es ist immer gut, wenn man sich sicher fühlt", sagt Lieberman, die Manhattan von ihrem Büro in der 19. Etage aus der Vogelperspektive betrachten kann. "Aber es ist eine Illusion."

Das NYPD argumentiert mit gesunkenen Kriminalitätsraten: So seien Straftaten gerade in videoüberwachten Blocks zurückgegangen. Die Gegner widersprechen: Das lasse sich nicht nachweisen. Es könnte auch in New York andere Gründe geben: neue Polizeitaktiken, bessere Straßenbeleuchtung, demografischer und wirtschaftlicher Wandel oder neue Formen der statistischen Erhebung.

Untersuchungen bestätigen diese Zweifel. Die zwei bisher meistdiskutierten Sammelstudien stammen vom britischen Innenministerium. Ihr Fazit: Videoüberwachung hat wenig oder "keine generelle" Auswirkung auf die Kriminalität - manchmal stiegen die Raten sogar weiter an. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen 2008 Universitätsanalysen von Kameras und Straftaten in San Francisco und Los Angeles.

Hinzu kommt: Keiner weiß genau, wohin die Bilder dieser Kameras fließen und was damit geschieht. Die US-Gesetze, die das regeln sollen, sind ein Vierteljahrhundert alt. "Da gab es noch nicht mal Internet", sagt Lieberman.

Die Gesellschaft hat nur noch wenig Sinn für Privatsphäre

Einige Kameras zeichnen auf, ohne dass jemand live zuschaut. Andere führen direkt in eine Überwachungszentrale, etwa das New Yorker Katastrophenschutz-Lagezentrum.

Das ist ein technologisch hochgerüsteter Bunker jenseits des East Rivers, zu Füßen der Brooklyn Bridge. 50 Millionen Dollar hat diese Kommandozentrale des städtischen Office of Emergency Management (OEM) gekostet, in der alle Polizei-Fäden zusammenlaufen - Kameras, Computer, Funkverkehr. Es ist die fortschrittlichste Anlage ihrer Art in den USA.

Der Hauptraum im zweiten Stock, ein fensterloser Saal, vollgestopft mit Bildschirmen. Über die flimmern News-Sender, Wetterradar, Luftverkehr - und Bilder der NYPD-Kameras aus der ganzen Stadt. Dutzende Cops sitzen davor, starren, schreiben, protokollieren.

Was genau sie mitschreiben, dazu schweigt der Katastrophenschutz-Beauftragte Joseph Bruno. Man halte nicht nur Ausschau nach Terroristen, sagt er, sondern auch nach Verkehrssündern, Kleinkriminellen, ausgefallenen U-Bahnen, Stromausfällen, dramatischen Wetterlagen. Der "schlimmste GAU" für die Stadt sei sowieso kein Anschlag, weiß Bruno. Es sei "ein Hurrikan, Kategorie 4".

Zumindest in den USA haben die Gegner der Massenüberwachung derzeit kaum noch Chancen. Die von Reality-Shows, Facebook und Twitter geprägte Generation habe nur noch wenig Sinn für Privatsphäre, klagt Lieberman. Außerdem diktierte die latente Terrorangst der Bürger jede politische Debatte.

"Der Zug ist abgefahren", sagt sie resigniert. "Wir sind längst die totale Überwachungsgesellschaft."

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