Kinder sind manchmal wahnsinnig süß - und manchmal machen sie uns wahnsinnig. Für SPIEGEL ONLINE legen sich eine Mutter und zwei Väter regelmäßig auf die Elterncouch.
Juno Vai schreibt auf der Elterncouch im Wechsel mit Theodor Ziemßen und Jonas Ratz.
Üble Indoktrination oder notwendiges Weltwissen? In Deutschland dürfen sich Kinder aus dem Religionsunterricht ausklinken. Das ist ein großer Fehler.
Neulich im Gymnasium: Der Klassenlehrer meines Sohnes hatte Kinder und Eltern der 5a zum Grillen geladen. Beladen mit Tonnen üppig marinierter Fleischlappen trudelten Väter und Mütter ein, beäugten sich zaghaft, lernten sich kennen, checkten, mit welchem Elternteil man langfristig wohl mehr als drei Worte wechseln könne.
Ich war gerade im Gespräch mit Lehrer Meyer, als eine kurzgewachsene, blonde Frau mit Pferdeschwanz auf ihn zustürzte und gleich zur Sache kam: "Wie kann ich meinen Sohn möglichst schnell vom Religionsunterricht befreien?", fragte sie mit osteuropäischem Akzent. "Wissen Sie, wir sind nicht wie Sie, wir sind orthodox, das ist ganz anders."
Lehrer Meyer, ein Veteran kurz vor der Rente, erklärte ihr gelassen, wo sie einen Antrag stellen könne. Sehr schön, befand die Frau, Mathe statt Religion sei doch eine ideale Alternative. Ich war verwirrt. Wieso können Kinder einfach dem Religionsunterricht fernbleiben? Und was bitte hat der eigene Glaube damit zu tun?
Fundamentalistische Positionen erkennen
"Es geht doch im Religionsunterricht nicht um Mission, sondern um Information, um Weltwissen", warf ich genervt ein. "Die Kinder lernen etwas über das Christentum, aber doch auch über andere Religionen, damit sie sich kritisch damit auseinandersetzen können." Und das sei ja wohl heute nötiger denn je, wo Fundamentalisten, Extremisten und Scharlatane allerorts religiöse Schriften missbrauchten, um junge Leute für obskure Missionen zu rekrutieren. Oder?
"Natürlich setzen wir uns mit verschiedenen Religionen auseinander", pflichtete mir der Klassenlehrer bei. "Wir sind doch nicht der verlängerte Arm der evangelischen oder katholischen Kirche." Auf Nachfrage ließ auch der Rektor verlauten, der Religionsunterricht solle nicht zum ungeliebten Orchideen-Fach verkommen. "Die Gründe für einen Antrag auf Befreiung vom Religionsunterricht müssen plausibel sein und werden sehr genau geprüft", sagte er.
Tatsächlich sind die Anforderungen für das Fach Religion vom Bildungsministerium unseres Bundeslandes so formuliert, dass sie alle religiösen Texte betreffen und es dem Lehrer überlassen, welche Schriften er exemplarisch nutzt. Ausdrücklich soll den Schülern beigebracht werden, "fundamentalistische Positionen zu erkennen und deren Konsequenzen zu reflektieren". Die angeführten Unterrichtsbeispiele sind weit gefasst und thematisieren mono- und polytheistische Religionen, aber auch lebensweltliche Fragen.
Auseinandersetzung statt Fernbleiben
Ich erinnere mich, dass es an meinem Gymnasium die Möglichkeit gab, Philosophie statt Religion zu belegen, was ich mit Begeisterung getan habe. Der Unterricht stellte sich als riesige Bereicherung dar - für mein Verständnis von Geschichte, Didaktik und Rhetorik, aber auch, weil er mich die Fähigkeit zum Diskurs gelehrt hat.
Am Gymnasium meiner Kinder gibt es keinen Philosophie-Unterricht. Das liegt nicht am Unwillen der Leitung, sondern an der Tatsache, dass entsprechende Lehrkräfte fehlen und die Schule notorisch unterfinanziert ist. Die Frage lautet also: Religion oder Belegung eines anderen Fachs in einer Parallelklasse.
Es mag Eltern geben, die Letzteres als Best-Case-Variante, weil Gratis-Nachhilfestunde in Mathe betrachten. Für mich unterscheidet sich ein religiös motiviertes Kneifen vorm Religionsunterricht letztlich in nichts von dem Verhalten muslimischer Eltern, die ihrer Tochter verbieten, am Sport- oder Schwimmunterricht teilzunehmen.
Schule bedeutete auch, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die einem unangenehm oder lästig sind. Es ist nicht nur ein falsches pädagogisches Signal, religionskritischen oder andersgläubigen Schülern das Fernbleiben vom Religionsunterricht zu erlauben. Es macht auch den Diskurs zwischen den Schülern um einiges ärmer.
Diskutieren, debattieren, sich aneinander reiben, um dadurch zu einer eigenen Meinung zu gelangen - das sind urdemokratische Prozesse. Die Fähigkeit dazu muss in der Schule geübt werden. Auch oder gerade anhand so emotional besetzter Themen wie dem Glauben.
Liebe Eltern, wie stehen Sie zum Religionsunterricht? Mails an mich . Danke!

Juno Vai,
Mutter von Vic (15) und Vito (12)
Liebstes Kinderbuch: der Pinguin-Comic von meinem Sohn
Nervigstes Kinderspielzeug: alles mit komplizierten Anleitungen
Erziehungsstil: Liebe, Verlässlichkeit, Respekt