Angst vor Absage der Weihnachtsmärkte »Nürnberg, das ist kein Saufgelage wie in Ischgl«

Weihnachtsmarkt auf dem Hamburger Rathausplatz (Archivfoto)
Foto: Henning Angerer / imago images/Hoch Zwei Stock/AngererDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Da steht er mit seiner weißen Jacke und einem Lächeln im Gesicht und darf wieder arbeiten. Patrick Müller, 47, verkauft Apfeltaschen, Schmalzkuchen und Berliner, seit rund drei Jahrzehnten. Auch seine Eltern und Großeltern hatten schon Stände auf Volksfesten und Weihnachtsmärkten.
Zuletzt unterbrach Corona die Tradition. Müller musste als Lkw-Fahrer arbeiten, seine Frau fuhr Medikamente für Apotheken aus.

Patrick Müller: ein Auf und Ab
Foto: Kristin Haug / DER SPIEGELJetzt steht Patrick Müller im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Der Wandsbeker Winterzauber ist der erste Weihnachtsmarkt, der in der Stadt eröffnet hat. Ein Ordner am Eingang kontrolliert, ob die Besucher geimpft oder genesen sind.
Patrick Müller hat vier Mitarbeitende eingestellt, Eier, Zucker und Mehl eingekauft. Er sagt, für die Seele sei es schlimm gewesen, nicht zu arbeiten, ein Auf und Ab. Jetzt könne er endlich wieder seinem eigentlichen Job nachgehen. Und falls der Markt wieder geschlossen würde? Er sei schicksalsergeben, sagt Müller, er könne dann eh nichts machen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat am Donnerstag bereits gefordert, die Weihnachtsmärkte wieder abzusagen. »Man kann sich doch nicht vorstellen, dass man auf dem Weihnachtsmarkt steht, Glühwein trinkt, und in den Krankenhäusern ist alles am Ende, und man kämpft um die letzten Ressourcen«, sagte er. Unterstützung erhält Kretschmer vom Robert Koch-Institut (RKI), es ruft angesichts der hohen Infektionszahlen erneut dazu auf, Kontakte zu vermeiden und Veranstaltungen abzusagen.
Die Lage in Sachsen ist dramatisch, nirgends sind so wenige Menschen geimpft, in keinem anderen Bundesland ist die Inzidenz höher. Ist und bleibt das Land eine Ausnahme? Oder nur ein Vorbote der Entwicklung, die demnächst die ganze Republik erfassen könnte?
Der Deutsche Schaustellerverbund ist entsetzt über Kretschmers Forderungen. Lorenz Kalb sagt, dass er in den vergangenen Tagen viel Verzweiflung am Telefon gehört habe. »Weinende Schausteller, die nicht wissen, wie es jetzt weitergehen soll. Die Lage ist dramatisch«, sagt der Vorsitzende des Süddeutschen Schaustellerverbands. Sein Telefon stehe nicht mehr still.
»Die Schausteller wurden von den Zulieferern unter Druck gesetzt, Waren zu kaufen, sonst würden sie nichts mehr kriegen«, sagt Kalb. Sie hätten eingekauft, Mitarbeiter eingestellt, Hygieneseminare besucht, sich überlegt, wie sie die Kunden durch die Buden schleusen, wo der Ein- und wo der Ausgang sein soll. Und nun kämen die ersten Stimmen, die fordern, die Weihnachtsmärkte zu schließen.
Seit knapp zwei Jahren hätten die Büdchenbetreiber praktisch ein Berufsverbot, die Branche sei gebeutelt. »Ganze Städte hängen von solchen Entscheidungen ab, Bäcker, Metzger, Taxifahrer, Hoteliers«, sagt Kalb. Er spricht von Aktionismus der Politik und beteuert: Die großen, professionell veranstalteten Weihnachtsmärkte seien sicher.
»Und was ist jetzt?«
In Nürnberg erstrecke sich der Markt nicht nur über einen Platz, sondern auf die Innenstadt, die Buden werden weit auseinander stehen. »Der Nürnberger Weihnachtsmarkt, das ist kein Saufgelage wie in Ischgl, hier liegt der Fokus auf dem Kunstgewerbe«, sagt Kalb. Kleinere Märkte, etwa in Rosenheim, wurden bereits abgesagt. Das seien aber auch Weihnachtsmärkte von Ehrenamtlichen gewesen, »die können sich nicht an die Hygieneauflagen halten«.
Kalb ist aufgebracht. Das ganze Jahr sei ihnen erzählt worden, an der frischen Luft könne nichts passieren. »Und was ist jetzt?« Kaum jemand rede über die vollen Stadien oder Messen – warum müssten die Schausteller nun dran glauben?
Albert Ritter, Präsident des Deutschen Schaustellerbundes, warnte schon im Oktober davor, die Branche stehe mit »dem Rücken an der Wand«. Rund 190 Millionen Menschen im Jahr würden Volksfeste und Kirmessen besuchen, 160 Millionen Menschen auf Weihnachtsmärkte gehen. Diese kämen »in Friedenszeiten«, also ohne Pandemie, auf einen Umsatz von knapp 2,9 Milliarden Euro. Durch den Ausfall im Jahr 2020 sei die finanzielle Lage der Schausteller dramatisch geworden, nur die Überbrückungsgelder des Bundes hätten den freien Fall gestoppt.
Frank Hakelberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Schaustellerverbunds, sagt, die Stimmung sei katastrophal. Die Schausteller hätten darauf vertraut, dass es angesichts der hohen Impfquote keine flächendeckenden Schließungen und keine Lockdowns mehr geben solle – also auch Weihnachtsmärkte stattfinden können. »Um für diese Märkte alles vorzubereiten, haben sie ihre letzten Reserven aufgebraucht, viele haben sich auch verschuldet.«
Das Weihnachtsgeschäft sei für die Schausteller extrem wichtig. »Wenn wir uns jetzt keinen Winterspeck anfuttern können, dann kommen wir nicht durch das erste Quartal im neuen Jahr«, sagt Hakelberg. Erst zu Ostern würden wieder die Märkte stattfinden. Es könne nicht sein, dass eine Branche einfach abgeschaltet werde. »Wer die Absage der Märkte fordert, muss im selben Atemzug auch sagen, wie die Schaustellerfamilien vor dem Ruin bewahrt werden.«
Hakelberg fordert, die Überbrückungshilfen zu erhöhen und zu verlängern. »Werden sie nicht auf das neue Jahr ausgeweitet, wird es Insolvenzen in Serie geben«, sagt er. »Wenn die Coronasituation dramatisch ist, werden wir das natürlich nicht leugnen und müssen uns beugen. Aber Politiker müssen mit Augenmaß entscheiden und die Tragweite ihrer Entscheidungen im Blick haben.«

Richard Pluschies: »Man fühlt sich sehr schnell sehr nutzlos«
Foto: Kristin Haug / DER SPIEGELRichard Pluschies will gar nicht erst hören, was die Politiker und Politikerinnen sagen. Auf dem Wandsbeker Winterzauber verkauft er Feuerzangenbowle, Crêpes, Glühwein und Champignons. Davor war der 5. Januar 2020 sein letzter Arbeitstag auf einem Weihnachtsmarkt gewesen.
Immerhin durfte er in Wandsbek zumindest einen kleinen Imbiss betreiben. »Zu arbeiten war mental wichtig für mich«, sagt er. »Man fühlt sich sehr schnell sehr nutzlos.« Er mache seinen Job gern und wolle dem Staat ja nicht auf der Tasche liegen. Pluschies findet es richtig, dass der Wandsbeker Winterzauber nur unter 2G-Regeln stattfinden darf.
Die vier Ordner an den zwei Eingängen müssten die Schausteller natürlich bezahlen, aber zumindest könnten sie so arbeiten. Die Schutzmaßnahmen seien enorm wichtig, 2G sehe er auch als Zukunftsmodell. »Corona wird ja nicht einfach weggehen, wir werden damit leben müssen.«
Märkte sollen umzäunt werden
Die Corona-Schutzverordnungen sind Sache der 16 Bundesländer, die Kommunen legen sie aus. In Duisburg findet der Weihnachtsmarkt seit Donnerstag unter 2G-Regeln statt; wer dagegen verstößt, dem droht ein Bußgeld in Höhe von 250 Euro. Ähnlich sieht es im Moment in einigen Städten von Rheinland-Pfalz noch aus: Hier sollen Sicherheitsdienste an den Zugängen kontrollieren und die Märkte umzäunt werden.
In Herne hingegen kontrolliert niemand in der Innenstadt, ob jemand geimpft, getestet oder genesen ist. »Bei uns verteilen sich 14 Buden über die Bahnhofstraße, dazwischen ist genügend Abstand«, sagt der Pressesprecher des Stadtmarketings, Alexander Christian.
Die Büdchen sind vor allem für die Menschen gedacht, die ohnehin in der Stadt unterwegs sind, um zu Ärzten oder Behörden zu gehen. Um größere Ansammlungen zu vermeiden, finde aber kein Bühnenprogramm statt, das habe es im vergangenen Jahr auch schon nicht gegeben.
»Die Schausteller sind froh und erleichtert, dass sie wieder mit ihren Buden stehen können«, sagt Alexander Christian. Unter den Schaustellern gehe es sehr familiär zu, viele würden einander und auch die Stammkunden kennen. Das sei nicht vergleichbar mit den großen Event-Weihnachtsmärkten wie in Bochum, Essen oder dem Cranger Weihnachtszauber, einer Weihnachtskirmes vor allem für Menschen von außerhalb.

Christian Müller: »Die Kasse war einstellig«
Foto: Kristin Haug / DER SPIEGELChristian Müller, 45, betreibt auf dem Weihnachtsmarkt in Wandsbek einen Glühweinstand. Mit 16 Jahren sei er in den elterlichen Betrieb eingestiegen, erzählt er. Für ihn wäre es eine Katastrophe, wenn die Märkte wieder schließen müssten.
Die Saisonarbeiter aus Polen und Rumänien seien auch schon da. »Wir haben sie alle dazu bewegen können, sich impfen zu lassen«, sagt Müller. »Die erste Impfung im Ausland, die zweite dann hier.« Er habe sie schon im vergangenen Jahr in Kurzarbeit schicken müssen, als die Weihnachtsmärkte kurzfristig abgesagt wurden. »Wir haben das Kurzarbeitergeld aufgestockt, damit wir sie nicht verlieren.«
Ein bisschen renoviert
Er und seine Frau seien seit 30 Jahren selbstständig, »die vergangenen zwei Jahre haben fast alles aufgefressen«, sagt er. Er habe zwar auch auf Sonderflächen in Wandsbek einen Crêpes-Stand betreiben können, aber viel sei dabei nicht rumgekommen.
Als der Lockdown im vergangenen Dezember kam, habe kaum noch jemand Crêpes gekauft. »Die Kasse war einstellig. Am 10. Januar mussten wir den Stand schließen.« Sie hätten ein wenig an den Buden renoviert. »Dank der staatlichen Hilfen war ja Geld da, wir waren aber vorsichtig beim Ausgeben.« Sie hätten sich schon oft gefragt, ob sie tatsächlich noch einmal hundert Euro für Farbe investieren sollten.