Offener Brief nach Skandal um Weißen Ring "Entlarvt diese Täter als Monster, bevor ihr selber als Opfer erstickt"

Holstentor in Lübeck
Foto: imago/ Gerd Rettinghaus"Ich bekam lebenslänglich, mit neun Jahren." Petra Kappler, 50 Jahre alt, sitzt Anfang März in ihrem Wohnzimmer und erzählt von einem Leben, das früh schweren Schaden nahm. Ein Mann aus der Nachbarschaft hatte sie und andere Mädchen sexuell missbraucht und war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.
Seit damals begleitete Petra Kappler das Gefühl, schuldig und schmutzig zu sein. Weil sie sich nicht gewehrt hatte, weil sie nichts erzählt hatte, zu Hause, wo ein gewalttätiger Vater ihr schon früh die Hoffnung auf Schutz und Verständnis genommen hatte. "Als alles rauskam, hat sich auch meine Mutter von mir abgewandt und gesagt, ich hätte jetzt ja einen Schaden."
Die Angst, dass ihr niemand glaubt, kennt Petra Kappler seit ihrer Kindheit. Vier Jahrzehnte und viele Psychotherapien später hat sie gelernt, ihre Ängste zu benennen; wirklich besiegt hat sie ihre Dämonen nicht.
Petra Kappler hat heute Krebs im Endstadium; die Ärzte geben ihr nur noch wenige Wochen. Sie hat sich zum Sterben wieder nach Hause begeben und wird palliativ versorgt.
Zwei Dinge will sie noch tun: ihr Enkelkind sehen und den angeblichen Umgang jenes Mannes mit ihr öffentlich machen, der ihr eigentlich helfen sollte - und der stattdessen, so erzählt es Kappler dem SPIEGEL, die Dämonen ihrer Kindheit wieder erweckt haben soll.
Detlef Hardt, früherer Leiter der Lübecker Außenstelle des Weißen Rings, steht unter Verdacht, Frauen sexuell belästigt zu haben. Der SPIEGEL hat sich die Vorwürfe mehrerer Frauen eidesstattlich versichern lassen. Sie reichen von klebrigen Anmachen über die Frage, ob er die Brüste der Frauen anfassen dürfe, bis hin zum wohl ernst gemeinten Tipp, sie sollten doch als Hure arbeiten, um aus ihrer Geldnot herauszukommen.
Der Verein mit Sitz in Mainz hatte Hardt, der sämtliche Vorwürfe vehement bestreitet, im Herbst aus dem Amt gedrängt. Über die wahren Gründe und Hintergründe ließ der Weiße Ring die Öffentlichkeit allerdings im Unklaren. Nach Erscheinen umfassender Berichte des SPIEGEL und der "Lübecker Nachrichten" sind der schleswig-holsteinische Landesvorsitzende des Weißen Rings, Uwe Döring, und sein Stellvertreter Uwe Rath am Samstag zurückgetreten.
Eines der mutmaßlichen Opfer Hardts ist Petra Kappler. Sie hatte sich 2015 an den Weißen Ring gewandt, weil sie gehört hatte, dass es eine neue Rente für Missbrauchsopfer gebe. "Ich habe auf einen Helfer gehofft, einen, der das an meiner Seite durchkämpft", sagte Kappler dem SPIEGEL. Nachdem sie Hardt bei einem Treffen ihre persönliche Lage geschildert habe - auch, dass sie allein lebte - soll der Weiße-Ring-Mann gesagt haben: "Eine Frau mit Ihrem Dekolleté und dann kein Mann, das ist ja unvorstellbar".
Später will sie ihm bei einem Telefonat erklärt haben, dass alte Dämonen aus ihrer Kindheit zurückgekehrt seien. Sie habe sich als Kind wochenlang nicht waschen können, nachdem sie missbraucht worden sei. Hardt habe am Telefon angeboten, er könne in wenigen Minuten da sein, um sie zu waschen; allerdings solle sie auch ihn waschen. Daraufhin soll Kappler ihm empört gedroht haben, ihn anzuzeigen. Doch Hardt habe nur kühl geantwortet, wenn sie das versuche, werde er sie unter Betreuung stellen.
"Eine Institution in Lübeck"
Hardt bestreitet diese Vorwürfe. Vom SPIEGEL mit Kapplers Schilderung konfrontiert, antwortete Hardts Anwalt, einen "derartigen Vorfall im Jahr 2015 (oder auch sonst) hat es nie gegeben." Es sei nicht nachvollziehbar, warum "erst jetzt nach über drei Jahren meinem Mandanten derartig relevante Vorwürfe unterstellt werden".
Damals habe sie sich wochenlang in ihrer Wohnung verkrochen, erzählt Petra Kappler. Eine Anzeige gegen Hardt, früher Sprecher der Lübecker Polizei, habe sie schnell verworfen. "Der war doch eine Institution in Lübeck, mit Freunden in Polizei und Politik." Und außerdem habe sie dann andere Probleme gehabt, den Krebs, der sie nun beinahe besiegt habe. Erst ein Interview mit Hardt Anfang Januar in der Lokalzeitung, in dem er sich zum Abschied noch mal als Mann der großen Gefühle inszenierte, habe ihre Lebensgeister wieder geweckt. "Diese widerliche Ego-Show", sagt Kappler.
Sie bezeichnet Hardt als "Täter"; ob er das allerdings wirklich ist, auch im strafrechtlichen Sinn, ist nicht erwiesen. In der Vergangenheit hatte die Lübecker Staatsanwaltschaft zwar mehrfach Hinweise darauf bekommen, dass sich Hardt gegenüber Frauen daneben benommen hatte. Ermittlungen leitete sie aber nicht ein, weil es an "zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten" für eine Straftat gefehlt habe.
Gefährlich wird nun für Hardt, dass ihn mehrere Frauen, die sich nicht kannten, unabhängig voneinander belasten. Kappler hat ihm einen offenen Brief geschrieben, den der SPIEGEL im folgenden dokumentiert.
Brief von Petra Kappler: "So schwach wie Sie, Herr Hardt, können wir Opfer gar nicht sein"
"Als eines der 'traumatisierten Kriminalitätsopfer', welche in den Genuss kamen, von Ihnen 'betreut' worden zu sein, möchte ich mich an dieser Stelle ... äußern, um einige wichtige Sachverhalte ins richtige Licht zu rücken. Herr Hardt, es gehört sich einfach nicht, traumatisierte Opfer sexueller Gewalt gleich im Erstgespräch auf ihr Dekolleté anzusprechen.
Sehen Sie, wir Opfer ticken einfach anders - haben Sie das in 13 Dienstjahren nicht gemerkt? Doch, doch, Sie wussten das und wussten das geschickt für sich zu nutzen! Man braucht als Opfer lange, um hinauszugehen, beim Sprechen, sich Öffnen bricht das Thema gern mal wieder auf. Die Symptome, wie zum Beispiel nicht in den Spiegel gucken zu können, sich nicht mehr duschen zu können, ja das alles ist leider plötzlich wieder da.
Herr Hardt, da half auch Ihr damaliges fürsorgliches Angebot, mich duschen zu wollen, nicht weiter. Ich war geschockt. Klick, Schluss, Punkt aus. Die Tür meiner Opferseele schloss sich wieder - fest, ganz fest - dank Ihrer Hilfe.
Herr Hardt, Sie waren auf den ersten Blick für mich ein Repräsentant des Weißen Rings, ein Türöffner zwischen der Welt und den Opfern, ein Zeichen der Hoffnung. Opfer, die darauf angewiesen sind, wieder Vertrauen zu gewinnen - in sich selber und in die menschliche Gemeinschaft und ihre Institutionen. Die Opfer leben in einem Kokon der Angst, Verzweiflung und Scham und brauchen oft Jahre, um sich zu öffnen - und sie brauchen Hilfestellungen, um anklagen und fordern zu können, auch ihr Recht auf Gesundheit und auf Wahrheit.
An dieser Schnittstelle saßen Sie und zogen genüsslich Ihren Nutzen daraus. Anstatt das zu tun, was Ihre Kollegen vom Weißen Ring üblicherweise tun (zum Beispiel die Opfer ernst nehmen, zuhören und sie damit so weit stärken, dass der schwere und lange Kampf um ausgleichende Gerechtigkeit in Angriff genommen werden kann), haben Sie die Not Ihrer Opfer auf die widerwärtigste Art und Weise für Ihre narzisstischen Zwecke ausgenutzt.
Sie haben das öffentliche Ansehen der Institutionen, für die Sie gearbeitet haben (Weißer Ring, Kripo), als Deckmantel für Ihre Machenschaften missbraucht, um uns Opfer nochmals zu missbrauchen. Da ich diese perfiden Machenschaften bereits von meinem Psychoanalytiker kannte (er hat lange Zeit unentdeckt als Haremspascha gewirkt und letztendlich seine Approbation verloren - gut so) war ich vor Ihren Verführungskünsten mehr oder weniger gut geschützt - im Gegensatz zu den Frauen, die Sie wohl in ein Bordell oder zum Escortservice treiben wollten.
Wie schwer ist es für Ihre Opfer, trotz Ihrer Hilfe überhaupt noch ihr Spiegelbild zu ertragen ... Das ist doch, wie Sie wissen, das Schöne an uns Opfern, wir sind so unsicher und so leicht handelbar, weil wir sogar für Sie so leicht in unserem Vorhaben berechenbar sind. Komplimente, kleine Geschenke, manchmal auch eine Portion Strenge - manipulierbar und hilflos wie kleine Kinder waren wir.
Sie, Herr Hardt, Sie haben im Namen des Opferschützers mit der Hilflosigkeit und den Scham- und Schuldgefühlen der Opfer gespielt. So konnten Sie sich offenbar bei den weiblichen Opfern über lange Zeit ein Verhalten erlauben, was Sie sich bei anderen Frauen, die nicht in Not sind, ansonsten womöglich nicht getraut hätten...
Welch ein armer, schwacher Wicht müssen Sie sein, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit als Opferschützer feiern lassen und sich gleichzeitig so derartig verachtend gegenüber den schwachen weiblichen Opfern verhalten? Sie dachten wohl, diese verunsicherten, hilflosen Opfer werden nun auch bei Ihnen weiterhin schweigen, so wie fast alle Täter in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit darauf leider vertrauen durften.
Bei Ihnen ist es nun auch endlich einmal anders. Die Zeiten haben sich für uns als Opfer, aber auch für Sie als Täter geändert, und das ist gut so! Ihr Vertrauensschutz als Täter auf Kosten der Opfer ist schon lange abgelaufen, das Schweigen der Opfer hat endlich ein Ende gefunden.
Wenn man Sie sich so in Ihrem Treiben vorstellt und an die einprägsamen Situationen der Vergangenheit mit Ihnen zurückdenkt, erkennt man an Ihrer Schwäche als Täter endlich wieder die eigene Schönheit und Stärke - spät, aber nicht zu spät. So schwach wie Sie, Herr Hardt, können wir Opfer gar nicht sein.
Unsere Opferbiografien, gerade wenn sie schon in der Kindheit beginnen, sind, wie man es schon von den Missbrauchsopfern bei den Kirchen weiß, echt scheiße. Dennoch überrascht es immer wieder, wie lange Täter wie Sie dank ihrer 'altruistischen' Leistungen unerkannt bleiben und im gesellschaftlichen Glanze erstrahlen können, obwohl die unvorstellbare Niederträchtigkeit ihrer Persönlichkeit in der Öffentlichkeit eigentlich nur lange, dunkle Schatten werfen dürfte.
Allein Kraft Ihres Amtes konnten Sie die Frauen offenbar nochmals als Opfer für Ihre Gelüste gefügig machen .... Es reicht meiner Meinung nicht, Sie von ihrem Amt zu suspendieren. Da Sie anstatt beim Weißen Ring nun an der Musikhochschule Lübeck Ihr widerliches Gesamtkunstwerk vollenden wollen, wünsche und hoffe ich, dass Ihr Wirken und Schaffen, dass das, was sie den Frauen angetan haben, nicht nur strafrechtliche Konsequenzen für Sie haben wird.
Dass sie angesichts Ihrer verzweifelten Situation weiterhin komplett von sich überzeugt sind und Ihren unermüdlichen Einsatz preisen (lassen) müssen, ist für mich aus pathologischer Sicht verständlich, da Sie es eigentlich anders nicht mehr mit sich selber aushalten können. Dieses aus meiner Sicht selbstschützende, aber würdelose Verhalten reicht aber sicherlich in der Zukunft nicht mehr aus.
Es zeigt vielmehr, dass Sie ganz offensichtlich nicht in der Lage sind, die Wahrheit, die auch Sie kennen, zu ertragen. Schon die Opfer können diese traurige und hässliche Wahrheit kaum ertragen, die sie manchmal in ihrem Spiegelbild sehen, aber wie schwer muss es erst für Sie als Täter sein, diesen Anblick auszuhalten - glauben Sie mir, als Opfer weiß ich, wovon ich spreche.
Und glauben Sie mir, Herr Hardt, Ihre Vergangenheit wird im Vergleich zu unserer jeden Tag noch schwerer auf Ihren Schultern lasten. Je mehr Sie leugnen, desto schwerer wird es für Sie als Täter sein, Ihre Schuld selber zu ertragen und im Lichte der Öffentlichkeit aufrecht Verantwortung für sich selber zu übernehmen und sich dieser Verantwortung zu stellen, so wie es sich für einen erwachsenen Menschen mit einem Mindestmaß an Anstand gehört.
Darum rufe ich euch Jungs und Mädels zu, übernehmt nicht mehr die Defizite der pervertierten Machthaber, deren Größe aus dem Raub eurer Seelen besteht! Klagt sie an, diese selbstzufriedenen, integren Personen, ja Persönlichkeiten, sprich - entlarvt diese Täter als Monster, bevor ihr selber als Opfer in Scham, Schuld und Schande erstickt! Ja, dazu brauchen wir Organisationen wie den Weißen Ring, die Öffentlichkeit, die Presse, die Justiz und vor allem uns selbst, um all das Verschüttete und beinahe Erstickte in uns wieder ins Sonnenlicht zu stellen, um wieder tief in uns die Wärme und Freude des Lebens, der Geborgenheit, des Vertrauens und der Menschlichkeit spüren zu können."