Hitze und Aggression "Ab 33 Grad beruhigen wir uns wieder"

Wenn die Temperaturen steigen, wächst auch die Zahl der Gewaltdelikte. Der Umweltpsychologe Gerhard Reese erklärt, warum das so ist - und was sich dagegen tun lässt.
Nur ein Hitzkopf - oder gibt es den "Long hot summer effect" wirklich?

Nur ein Hitzkopf - oder gibt es den "Long hot summer effect" wirklich?

Foto: iStockphoto/ Getty Images

Sie hupen, drängeln, maulen. Bei Hitze sind viele Menschen gereizt. Ende Juni endete ein sonniger Tag im Düsseldorfer Rheinbad mit einem Großaufgebot der Polizei. Ein 53-Jähriger hatte sich von einer Gruppe Jugendlicher belästigt gefühlt, an dem folgenden Streit sollen am Ende bis zu 400 Personen beteiligt gewesen sein. Der Einsatz war kein Einzelfall.

Eine Verbindung zwischen steigenden Außentemperaturen und steigender Aggression wird schon seit den Sechzigerjahren untersucht. "Long hot summer effect" nennen Experten diesen Effekt, der erklären soll, dass politische Unruhen und Krawalle mit zunehmender Sommerhitze immer wahrscheinlicher werden. Über die Frage, ob der Klimawandel Bürgerkriege in Afrika befördere, zerstritten sich ironischerweise sogar Wissenschaftler.

Doch macht uns Hitze wirklich aggressiver? Ein Anruf bei Professor Gerhard Reese, der das Zusammenspiel zwischen Klima und menschlichem Verhalten erforscht.

Zur Person
Foto: Philipp Sittinger

Gerhard Reese, 38 Jahre alt, ist Professor für Umweltpsychologie an der Universität Koblenz-Landau.

SPIEGEL ONLINE: Herr Reese, ist der "Long hot summer effect" nur ein Mythos?

Gerhard Reese: Nein, es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen Aggression und Hitze, das haben viele Forschungen belegt. Aber man kann nicht sagen: Immer wenn es heiß wird, dann werden die Leute aggressiv. Wenn jemand aggressiv wird, dann spielen immer auch noch andere Faktoren eine Rolle. Die Hitze wirkt dabei wie ein Verstärker für die anderen Emotionen.

SPIEGEL ONLINE: Was macht die Hitze mit uns?

Reese: Hitze ist sehr anstrengend für den Körper. Der Puls erhöht sich, uns läuft der Schweiß runter. Wir können uns schwer konzentrieren und blenden rationale, beruhigende Faktoren aus. Ab etwa 33 Grad beruhigen wir uns aber wieder - es ist einfach zu anstrengend.

SPIEGEL ONLINE: Was muss passieren, damit die Hitze zu Wut führt?

Reese: Da treffen ganz unterschiedliche Faktoren aufeinander: Menschen bleiben abends länger draußen und trinken mehr Alkohol. In einer Stadt wie Berlin, die sehr eng bebaut ist, spüren Menschen bei heißen Temperaturen die Enge noch intensiver. Auch Testosteron kann eine Rolle bei Konflikten spielen. Es ist immer ein Zusammenspiel: Weder Alkohol, noch Testosteron, noch Hitze allein führt sofort zu aggressivem Verhalten. Aber die Kombination ist tückisch.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man tun, wenn man merkt, dass man bald aus der Haut fährt?

Reese: "Einen kühlen Kopf bewahren" ist eine schöne Redewendung. Man sollte versuchen, möglichst besonnen zu reagieren. Wenn man merkt, dass sich Emotionen aufgestaut haben, sollte man versuchen, sich kurz aus der stressigen Situation herauszuziehen. Also einfach den Ort wechseln, etwas anderes machen. Das fällt natürlich leichter, wenn das eigene Umfeld ruhig ist, als wenn alle gestresst sind.

Je höher die Temperaturen, desto mehr hitzige Gemüter kühlen sich auch in den Freibädern ab

Je höher die Temperaturen, desto mehr hitzige Gemüter kühlen sich auch in den Freibädern ab

Foto: Sebastian Gollnow/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Es flippt also nicht jeder Mensch aus, dem bei 30 Grad das Eis auf den Boden fällt?

Reese: Wenn ich den ganzen Vormittag gestresst war, dann wird mir am Mittag mein Job gekündigt und dann fällt mir auch noch das Eis herunter - dann reagiere ich natürlich heftiger als jemand, der ansonsten einen schönen Tag hatte.

SPIEGEL ONLINE: Der Klimawandel könnte uns noch wesentlich heißere Sommer bringen: Besteht dadurch die Gefahr, dass es zu mehr gesellschaftlichen Konflikten kommt?

Reese: Der Aggressionsforscher Craig Anderson hat gezeigt, dass die globale Erwärmung tatsächlich Gewalt fördern kann. Seine Modelle besagen, dass sich bei einem Temperaturanstieg von 2 Grad Fahrenheit auch die Zahl der Gewaltverbrechen erhöht. Er hat dazu Statistiken ausgewertet, die zeigen, dass es in besonders heißen Sommern zu mehr gewalttätigen Verbrechen gekommen ist. Dabei geht es nicht nur um direkte Effekte durch die ansteigenden Temperaturen. Durch die Klimaerwärmung kommt es auch zu mehr Migration, mehr Ernteausfällen oder Naturkatastrophen. Die Menschen wachsen nicht mehr in einem so sicheren Umfeld auf und verhalten sich aggressiver.

SPIEGEL ONLINE: In Ländern wie Spanien oder Griechenland sind die Sommer schon immer lang und heiß. Gewöhnt sich der Mensch nicht an Hitze?

Reese: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Gewöhnungseffekte gibt. In Südeuropa, wo es lange Hitzeperioden gibt, haben sich die Menschen Tricks ausgedachtet: eine lange Siesta zur Mittagszeit beispielsweise. Die Leute dort sind ja auch nicht per se aggressiver oder gewaltbereiter als in Nordeuropa.


Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes war im Einstieg von einem Vorfall Ende Juni im Freibad Melle die Rede. Die dortige Auseinandersetzung geschah jedoch bereits im vergangenen Jahr. Gemeint war ein Polizeieinsatz im Düsseldorfer Rheinbad, wir haben die Passage entsprechend korrigiert.


Im Video: Wie Gewalt entsteht - Das Auge-um-Auge-Prinzip

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