Fall Maria Die Mär von den kinderraubenden Roma

Der Fall der kleinen Maria, die in Griechenland bei einem Roma-Paar entdeckt wurde, hat dunkelste Ressentiments geschürt. Das Bild der Roma als Sozialbetrüger, Schmarotzer und Kriminelle ist allzu verbreitet. Und selbstverständlich falsch. Was viele Roma eint, ist Armut und Perspektivlosigkeit.
Roma in Rumänien: Teufelskreis aus Verelendung und Verwahrlosung

Roma in Rumänien: Teufelskreis aus Verelendung und Verwahrlosung

Foto: ANDREI PUNGOVSCHI/ AFP

Es gibt in der Geschichte der abendländischen Zivilisation zwei Gruppen von Menschen, die unter besonders schlimmer Verfolgung gelitten haben: Juden und Roma. Und nicht umsonst existieren dafür spezifische Termini: Antisemitismus und Antiziganismus.

Seit dem Verbrechen der industriellen Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten ist Antisemitismus in Europa unter keiner Regierung mehr salonfähig gewesen. Es scheint heutzutage undenkbar zu sein, dass die Mär eines jüdischen Ritualmordes an einem christlichen Kind, früher eines der am tiefsten verwurzelten antisemitischen Klischees, weite Teile der Öffentlichkeit in europäischen Ländern in Aufruhr versetzt - und Politiker eine solche Stimmung auch noch befeuern.

Anders im Falle der Roma: In den vergangenen Wochen sorgte die Geschichte der kleinen blonden Maria, die in einer griechischen Roma-Familie entdeckt wurde, europaweit für Schlagzeilen. Noch bevor Einzelheiten des Falles feststanden, war in der Öffentlichkeit bereits das Bild entstanden, es handele sich um einen furchtbaren Fall von Menschenraub oder zumindest Menschenhandel.

Eine individuelle Geschichte von bitterster Armut

Die Geschichte entsprach damit nicht nur perfekt dem althergebrachten Klischee der Zigeuner als Kinderdiebe, das Wissenschaftler schon lange als historisch unbegründet entlarvt haben. Sie bestätigte auch zum wiederholten Male das Bild der Roma, das sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten, seit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa, in Europa verfestigt hat: Roma als Sozialbetrüger, Schmarotzer und Kriminelle. Ein Bild, wie es in den vergangenen Monaten auch deutsche Innenpolitiker in der Debatte über Armutsflüchtlinge suggeriert haben.

Inzwischen steht fest, dass die Geschichte der kleinen Maria nicht eine von Menschenraub ist, nicht einmal ein typischer Fall von Menschenhandel. Es ist, auch wenn viele Einzelheiten des Falles noch nicht geklärt sind, ganz offensichtlich eine individuelle Geschichte von bitterster Armut und Verwahrlosung, von verantwortungslosem und teilweise auch kriminellem Handeln.

Im aktuellen SPIEGEL
Foto: Foto: Stoyan Nenov/ REUTERS

Die Betonung liegt auf individuell. Elend, Verwahrlosung und Kriminalität haben keine Hautfarbe und keine Ethnizität. Roma sind keine notorischen Bettler, neigen nicht zum Diebstahl und pflegen kein spezielles Verhältnis zu Kindern oder Eigentum. Doch leider werden Roma, die Straftaten begehen, in den europäischen Medien häufig auch als Roma benannt, wenn über Straftaten, die sie begangen haben oder haben sollen, berichtet wird. So wurde auch das Schicksal von Maria als der Fall des Mädchens aus dem Roma-Lager bekannt.

Romantisierung des "lustigen Zigeunerlebens"

Dabei ist Roma in den meisten Fällen ein Hilfsbegriff: Als homogene Volksgruppe existieren die schätzungsweise neun Millionen europäischen Roma nicht. Sie haben keine gemeinsame Kultur und sprechen keine einheitliche Sprache, sondern - falls ohnehin nicht nur die offizielle Sprache ihres Heimatlands - sehr unterschiedliche Dialekte des Romani. Selbst in einzelnen Ländern, vor allem in Mittel- und Südosteuropa, wo die große Mehrheit der europäischen Roma lebt, unterscheiden sie sich regional und sogar lokal stark voneinander, sprachlich wie religiös. Auch die eher positiven romantischen Klischees vom "lustigen Zigeunerleben" haben kaum etwas mit der Realität zu tun: Die Mehrheit der Roma ist seit Jahrhunderten sesshaft.

Wenn überhaupt, dann haben die Roma eines gemeinsam: Vor allem in Mittel- und Südosteuropa leben die meisten von ihnen in tiefster Armut, oft in Ghettos in völlig verelendeten Verhältnissen. Entgegen westeuropäischer Wahrnehmung kommen die meisten selten über die Grenzen ihrer Region hinaus, und diejenigen, die es schaffen, sind selbst oft Opfer von Betrügern und Menschenhändlern.

In osteuropäischen Roma-Ghettos ist seit mehreren Generationen kaum jemand durchgängig zur Schule gegangen, kaum jemand hat einen Beruf gelernt oder arbeitet fest, dort leben die meisten von erbärmlich geringer Sozialhilfe, für die sie gemeinnützige Arbeit verrichten müssen, von geringfügigem Kindergeld und saisonalen Tagelöhnerarbeiten. Dort ist die Identität der Roma ausschließlich eine negative: Man weiß um seine Zugehörigkeit zu den "dreckigen Zigeunern". Solche Verhältnisse führen zu Alkoholismus und Drogenkonsum, zu Gewalt und Kriminalität - und dazu, dass Kinder schrecklich verwahrlosen.

Tiefsitzende Vorurteile

Die Ursachen für diese Verhältnisse reichen tief in die Geschichte zurück - Roma waren die meiste Zeit in der europäischen Geschichte so etwas wie Aussätzige. Zeitweise gehörte es zu beliebten Belustigungen des Adels, Jagden auf Zigeuner zu veranstalten. In jüngerer Zeit änderten die kommunistischen Herrscher in Osteuropa entgegen ihrer deklarierten humanistischen Absichten an der Lage der Roma nie etwas Grundlegendes, sondern benutzten sie als Manövriermasse ihrer Wirtschaftspolitik. Nach 1989 waren Roma die ersten Opfer des Transformationsprozesses - die ersten Arbeitslosen, diejenigen, die von der Landrückgabe ausgeschlossen blieben, diejenigen, die am schnellsten durch durch das Netz von Gesundheits- und Bildungwesen fielen.

Viele einzelne europäische Regierungen und auch die Europäische Union haben all diese Probleme schon seit langem erkannt und stellen Millionen Euro zur Verfügung, damit die Roma, vor allem in Europas Osten, Anschluss finden. Bei den Betroffenen kommt davon selten etwas an. Das meiste Geld versickert in Bürokratien, deren Mitglieder Strategiepapiere verfassen, Kongresse organisieren und ihre eigene Existenz sichern.

Eigentlich jedoch müssten die Roma-Ghettos zu halbwegs menschenwürdigen Siedlungen umgestaltet werden, sodann müssten sich Sozialarbeiter tagtäglich um die Menschen vor Ort kümmern, nicht mit aufseherischer Attitüde, sondern mit Empathie: ihnen bei der Arbeitssuche und der Gesundheitsversorgung helfen, auf die Versorgung und den Schulbesuch der Kinder achten. Nur so kann der Teufelskreis aus Verelendung und Verwahrlosung durchbrochen werden. Dabei sollte sich niemand Illusionen über kurzfristige Erfolge machen.

Doch es ist unwahrscheinlich, dass sich Europa in absehbarer Zeit ernsthaft seiner größten Minderheit annehmen wird. Zu tief sitzen die Vorurteile, zu schwach ist der politische Wille der jeweiligen Eliten. In unbeobachteten Augenblicken äußern sich selbst Minister, Regierungschefs und Staatsoberhäupter abfällig über Roma. Rumäniens Präsident Traian Basescu zum Beispiel erboste sich im Mai 2007 über eine Journalistin. Er nannte sie eine "dreckige Zigeunerin".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten