
Wirtschaftskrise Kinderarmut nimmt dramatisch zu
Hamburg - Es war das Wort des Jahres 2009: Die "Abwrackprämie", die doch eigentlich Umweltprämie hieß, sollte die Konjunktur ankurbeln. 2500 Euro konnte einstreichen, wer sein altes Auto zum Schrotthändler brachte und in einen Neu- oder Jahreswagen investierte. Rund fünf Milliarden Euro stellte der Bund insgesamt für die Maßnahme zur Verfügung. Sie sollte dabei helfen, die Folgen der Finanzkrise abzufedern und die Automobilindustrie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das war die eine Seite der Krise.
Die Prämie für ein deutsches Altauto beträgt ein Vielfaches des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Arbeiters in Bangladesch oder Nepal. Doch auch in diesen Ländern hat der wirtschaftliche Abschwung dazu geführt, dass viele Menschen ihre ohnehin schlecht bezahlten Jobs verloren haben. Während in den Industrienationen soziale Sicherungssysteme ein Abrutschen in Armut verhindern, gibt es solche Einrichtungen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern nicht. Die Krise trifft diejenigen am härtesten, die ihr am wenigsten entgegenzusetzen haben. Und das sind vor allem Kinder aus armen Ländern und ihre Familien - für sie geht es ums Überleben. Das ist die andere Seite.
Der -Jahresbericht 2010 dokumentiert die dramatischen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Kinder. Demnach wird die Zahl der Menschen, die in Armut leben, als Folge der Krise weiter steigen. Der Bericht geht davon aus, dass weitere 64 Millionen Menschen in eine solch prekäre Situation abrutschen werden - 70 Prozent von ihnen leben in sogenannten Schwellenländern. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer.
"Vor allem die Verletzlichsten leiden unter der Krise"
Kinder sind demnach die Verlierer der globalen Krise. Armut, Hunger und Krankheiten nehmen in Folge der weltweiten Rezession zu. Viele Probleme liegen jedoch für die Einwohner wohlhabender Staaten jenseits der Wahrnehmungsschwelle: Krankheiten, die hierzulande längst ausgemerzt sind und durch einfache - und häufig billige - Medikamente bekämpft werden können, stellen in Entwicklungs- und Schwellenländern tödliche Risiken dar.
Bei der Jahrespressekonferenz hat Unicef vier Forderungen an die - und gerichtet, die sich ab Freitag in treffen:
- Unicef fordert die Staats- und Regierungschefs dazu auf, die hohe Kinder- und Müttersterblichkeit sowie Aids stärker zu bekämpfen.
- Zugleich sollen die Kosten für Schulbildung verringert und deren Qualität verbessert werden.
- Arme Menschen sollen die Möglichkeit bekommen, für ihr eigenes Einkommen zu sorgen, der Zugang zu ausreichender Ernährung soll gesichert werden.
- Die Krise birgt die Gefahr, dass vor allem Kinder ausgebeutet werden - die Staatschefs sollen den Schutz der Kinder gewährleisten.
Fest steht: Die Auswirkungen der globalen Krise schlagen sich zeitversetzt nieder, die Folgen für arme Familien werden erst nach und nach sichtbar. Doch schon jetzt scheint sich abzuzeichnen, dass die Wirtschaftsnationen sich in schwierigen Zeiten vor allem um sich selbst kümmern - und versuchen, die Folgen für die eigene Bevölkerung abzufedern. Unicef fürchtet, dass die stagnieren wird.
Für Familien in armen Ländern bedeutet dies, dass sich die Krise unmittelbar auf die Alltagssituation niederschlägt - mit fatalen Folgen. Fast jedes zweite Kind in Südasien ist untergewichtig, 33 Prozent der Menschen können ihren täglichen Bedarf an Kalorien nicht decken. Viele Familien müssen 60 bis 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrung ausgeben.
"In den Haushalten der armen Länder ist für die Familien meist kein Geld vorgesehen", sagt Gaspar Fajth, Leiter der Abteilung Politik und Wirtschaft von Unicef International in New York, SPIEGEL ONLINE. "In Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs fehlt es ihnen an den wichtigsten Dingen."
"Für die Armen ist die Finanzkrise ein Tsunami"
Diese Familien haben keine Puffer, die harten Zeiten zu bewältigen. Hohe Lebensmittelpreise, sinkende Realeinkommen und steigende Arbeitslosigkeit vermengen sich zu einer unheilvollen Mischung.
Die Leidtragenden sind wiederum die Kinder: Sie müssen mit dazu beitragen, die Familien zu ernähren, gehen seltener zur Schule, erhalten weniger medizinische Hilfe, weil in den Familien das Geld fehlt. "Die Entwicklung der Mädchen und Jungen wird massiv beeinträchtigt", so Fajth. "Während die Menschen in den Industrienationen sich zwar einschränken müssen, es ihnen aber trotz allem recht gut geht, geht es für die Menschen, die ohnehin prekären Verhältnissen ausgesetzt sind, um alles."
Unicef versucht die Industriestaaten zu ermutigen, ihre Etats für die Entwicklungsländer nicht zu kürzen - denn schon mit verhältnismäßig wenig Geld könne geholfen werden. "Die westlichen Nationen können es sich nicht leisten, einen Rückzieher zu machen: Wir leben in einer vernetzten Welt. Was heute in Kathmandu passiert, hat unmittelbaren Einfluss auf die Menschen in New York." Gerade die Schwellenländer in Asien seien der Motor der globalen Wirtschaft.
"Die Folgen der Krise sind meiner Ansicht nach noch immer nicht voll abzusehen, auch wenn manche sagen, dass es schon wieder aufwärts ginge", so Jürgen Heraeus, Vorsitzender von Unicef Deutschland. "Der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus sagte mir: Für die Industrieländer ist die Finanzkrise ein Schock, aus dem man hoffentlich lernen wird. Für die Armen ist sie ein Tsunami."