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Von Anti-Atom bis Volkszählung: Das aufmüpfige Jahrzehnt

Foto: Roland Holschneider/ picture-alliance/ dpa

Zensus-Debakel in den Achtzigern Und bist du nicht willig...

Die Volkszählung 1983/87 war die letzte große Konfrontation von Staat und Volk in einem Jahrzehnt des Protests. Bürger riefen zum Boykott, Politiker reagierten mit kompromissloser Härte. Ein Paradebeispiel, wie eine wichtige Debatte in der Eskalation untergeht.

Der 15. Mai 1987 war nicht der Tag der Hanseaten. Der HSV war zu Gast bei Borussia Dortmund, und es lief nicht gut: Trotz eines frühen Führungstores schlichen die Nordlichter 4:3 geschlagen vom Platz. Sie waren an dem Tage nicht die einzigen Verlierer, die erst wie Gewinner ausgesehen hatten.

Der SPIEGEL berichtete über ein nicht weniger brisantes, nächtliches Match vor dem Match :

"Wozu Boykotteure fähig sind, entdeckten Freitagmorgen letzter Woche die Aufseher im Dortmunder Westfalenstadion. Da stand mit weißem Sprühlack auf grünem Rasen zwischen Mittelkreis und Strafraum des Fußballfeldes: 'Boykottiert und sabotiert die Volkszählung'.

Eile war geboten: Am Abend war die Begegnung Borussia gegen HSV angesetzt. Doch alle gärtnerischen Bemühungen scheiterten, die Schrift auf dem Rasen war nicht rechtzeitig zu beseitigen.

Da griffen auch die Stadionhüter zur Sprühdose und fälschten eine staatstragende Version: 'Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht' - so lasen es die Fußballfans am Abend."

Der zweifache Coup ist typisch für eine Zeit, als politischer Protest und Debatte selbst in die politikfreie Zone des Profifußballs einbrechen konnten. Selten war das so witzig wie in Dortmund, wo Präsident Richard von Weizäcker persönlich sein Placet zum Gegen-Graffito auf dem Rasen erteilte.

Das Demo-Jahrzehnt: Bürgerbewegungen gegen die Bürgerlichen

Am 15. Mai 1987 endete zufällig auch "Carbon Blazer", das bis dahin größte Militär-Manöver mit nuklearen Pershing-II-Raketen. Auch das ist symbolträchtig: Mit dem Höhepunkt der Volkszählungs-Protestwelle nahte auch die Endphase der lautstarken, großen Bürgerproteste. Vieles - wie der Widerstand gegen die Atomraketen - schien gescheitert. Ernüchterung verdrängte zunehmend die Euphorie, die die Aufbruchstimmung von Friedens- und Anti-Atombewegung gekennzeichnet hatten.

Noch aber hieß der Kanzler Helmut Kohl für viele nur "Birne". Noch galt: Widerstand ist Bürgerpflicht. Vor allem gegen die Volkszählung.

Die Kohl-Regierung hatte das ursprünglich schon für 1981 geplante Projekt von ihren Vorgängern geerbt. Sie betrieb es trotzdem hart und kompromisslos gegen den wachsenden Widerstand. Seit dem sogenannten Doppelbeschluss zur atomaren Rüstung von 1979 verschmolzen Anti-AKW- und Friedensbewegung, Millionen gingen protestierend auf die Straße. Das generelle Misstrauen gegen den Staat richtete sich bald auch gegen die Volkszählung.

Politiker wie der CSU-Chef Franz-Josef Strauß, für den die Bürgerbewegten nur eine "fünfte Kolonne Moskaus", "Ratten" und "Schmeißfliegen" waren, oder der CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann sorgten nicht nur mit Brachialrhetorik für eine zunehmende Verhärtung der Fronten. Zimmermann setzte auch auf staatliche Härte bei der Durchsetzung seiner Ziele. Auskunftsverweigerern drohte er mit Geldbußen von 10.000 Mark.

Der SPIEGEL erklärte am 19. Dezember 1983,  wie Zimmermann diese außerparlamentarische Opposition sah:

"Mit dem ihm eigenen Pathos unterschied er zwischen gut und böse: 'Der normale Bürger weiß', so Zimmermann im März, warum die Volkszählung 'notwendig ist'. Was die Kritiker vorbrachten, war für ihn nichts weiter als 'eine Diffamierungskampagne'.

Bei den Gegenargumenten handelte es sich, klarer Fall, um einen 'Angriff auf das ganze System'. Und der Verfassungsminister konnte die so beschriebenen Staatsfeinde auch quantifizieren - 'eine Minderheit'."

Eine noch kleinere Minderheit sah das deutlich anders: Die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe folgten den Bedenken der Bürger, die Hunderte Verfassungsbeschwerden auf den Weg gebracht hatten, und stoppten die Durchführung der Volkszählung im Frühjahr 1983. Bis zum Herbst sollte ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit erfolgen.

Der SPIEGEL berichtete:

"Zimmermanns Sprecher Wighard Härdtl fand, es sei 'ein Stück aus dem Tollhaus'. Daß erwachsene Richter sich plötzlich 'Randbedenken' zu eigen gemacht hätten, schien ihm 'nicht ganz verständlich'."

Am 15. Dezember 1983 definierten die Verfassungsrichter mit dem Volkszählungsurteil erstmals das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Fast nebenbei definierten sie Anforderungen an den Datenschutz und erweiterte Kompetenzen für die Datenschützer - und erteilten der Politik der Kohl-Regierung so eine schallende Backpfeife.

Künftige Volksbefragungen konnten nun nur noch innerhalb eines höchstrichterlich verordneten Rahmens durchgeführt werden. Zimmermann ließ umgehend nachbessern, bereits 1984 war mit dem novellierten Volkszählungsgesetz die Voraussetzung für den nächsten Anlauf geschaffen.

Volkszählung 1987 - Höhe- und Endpunkt eines Protestjahrzehnts

Die nun für den 25. Mai 1987 angesetzte Volkszählung sollte ein letztes Mal die Massen der Bürgerbewegten mobilisieren. Einmal mehr war es der Politikstil Zimmermanns, der die Durchsetzung der Volkszählung zu einer Machtprobe werden ließ.

Denn die Stimmung in der Bevölkerung war denkbar ungünstig: Meinungsumfragen hatten ergeben, dass nur rund die Hälfte der Bevölkerung ihre Bögen ordnungsgemäß ausfüllen wollte.

Die andere Hälfte setzte im Vorfeld auf Sabotage der Befragung. Der Chaos Computer Club CCC etwa warnte scheinheilig davor, Kaffee auf den Bögen zu verkleckern, um die Erfassungsrechner nicht zu sabotieren. Keinesfalls dürfe man auch "genau 4,4 Millimeter von der Papierkante" abschneiden, weil sonst "die Antwortmarkierungen um genau eine Zeile verrutschen" könnten.

Ende März 1987 drohte Innenminister Zimmermann an, dass schon Boykottaufrufe mit Strafgeldern geahndet würden. Der Ton wurde, je näher der Stichtag rückte, auf beiden Seiten immer hysterischer: Weil sich nicht genügend freiwillige Interviewer fanden, sollten Beamte bei Strafandrohung zwangsverpflichtet werden. Initiativen riefen derweil Zähler dazu auf, als "trojanische Interviewer" Datenmüll zu produzieren.

Prominente Rückendeckung für den Zensus fiel mitunter eher peinlich aus. So zitierte der SPIEGEL im März 1987:

"'Ich find' die Volkszählung gut. Damit lassen sich die kriminellen Elemente besser erfassen', erklärte letzte Woche Skandal-Fürstin Gloria von Thurn und Taxis bei einer Illustrierten-Umfrage. Der blonde Barde Heino argumentierte: 'Als deutscher Sänger bin ich auch für eine deutsche Volkszählung.'"

Während das Gros der Volkszählungsgegner auf passiven Widerstand setzte, nutzte Innenminister Zimmermann einzelne gewalthaltige Aktionen als Begründung für eine Verschärfung der Gangart.

Volkszählungsgegner: Behandelt wie Terroristen

Präventiv ließ er Wohnungen nach Flugblättern durchsuchen und die Büros Grüner Bundestagsabgeordneter aufbrechen. Rund tausend Volkszählungsgegner wurden polizeilich erfasst und in der sogenannten APIS-Datenbank beim BKA gespeichert : Die Arbeitsdatei PIOS Innere Sicherheit führte Daten aus Terroristenfahndung und des polizeilichen Staatsschutzes zusammen - Zimmermann hatte damit die Volkszählungskritiker in Terroristennähe gerückt.

Den Tiefstpunkt bildete aber eine heute fast undenkbare Überreaktion: Ende Mai ließ Zimmermann Generalbundesanwalt Kurt Rebmann beim Bundesgerichtshofs die "Einrichtung von Kontrollstellen" beantragen. Für kurze Zeit erlebte die Republik daraufhin Straßensperren mit Autodurchsuchungen: Es ging darum, Flugblatt-Verteilungen zu verhindern.

Das waren Rückgriffe auf die Methoden der Anti-Terror-Fahndung zur RAF-Zeit. Der Witz: Es wurde auch genauso begründet. Der SPIEGEL vom 18. Mai 1987:

"Das Feindbild umriß Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU). Letzte Woche schlug er den Bogen von den 'Aktionen, die wir zur Zeit unter dem Stichwort Volkszählungsboykott erleben', zu den 'Pamphleten. die uns bei terroristischen Verbrechen frei Haus geliefert werden'. Hier wie dort sei 'der freiheitliche Rechtsstaat zunehmend zum Angriffsobjekt geworden', sollten 'der Staat und die Staatsautorität vorgeführt werden'."

"Damit sind wir beim Kern der Sache", schrieb Hoimar von Ditfurth, damals Deutschlands populärster Wissenschaftsjournalist, in derselben Ausgabe:

"Es gibt […] ein sehr einleuchtendes Motiv, das die groteske Eskalation verständlich machen kann, deren verblüffte Augenzeugen wir sind. Bei der nur scheinbar banalen Volkszählungsaktion handelt es sich in Wirklichkeit um eine Art Gehorsamsprüfung, die eine verunsicherte Obrigkeit 'ihren' Untertanen aufzuerlegen für geboten hält. Aus Gründen, die denen vergleichbar sind, die es einem Turnierreiter zwingend vorschreiben, ein Pferd, das einen Sprung verweigert hat, mit Erfolg über das gleiche Hindernis zu bringen, bevor er den Parcours wieder verläßt, werden auch wir jetzt zum zweiten Male aufgerufen, uns zählen zu lassen."

Danach herrschte Ernüchterung

Der Streit um die Volkszählung 1983 ging noch um tatsächliche Einbrüche des Staates in die Privatsphäre seiner Bürger. 1987 ging es dagegen ums Prinzip und um die Frage des Verhältnisses von Staat und Bürger - basisdemokratische Trends trafen auf altes Obrigkeitsdenken.

Gewinner gab es keine. Die Bürgerbewegungen hatten ihre Kämpfe scheinbar verloren, der Staat seinen Bürgern eine autoritäre Fratze gezeigt. Danach herrschte auf beiden Seiten Ernüchterung, und Zimmermann wurde Verkehrsminister.

"Die Volkszählung, die in dieser Woche auf Touren kommt", hieß es weitsichtig in der SPIEGEL-Titelgeschichte vom 18. Mai 1987, "wird die letzte ihrer Art sein."

Nicht nur das. Weder begehrten danach die Bürger noch einmal in ähnlicher Weise gegen den Staat auf, noch ging der noch einmal so mit seinen Bürgern um. Die Themen der Bewegung aber hatten den Weg in die Parlamente und in die Parteien gefunden.

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