Zentralrat der Juden "Wir müssen raus aus der Holocaust-Nische"

Designierter Zentralrats-Präsident Graumann: "Mitten hinein ins Leben"
Foto: dapdBerlin - Charlotte Knoblochs designierter Nachfolger gilt als Mann des Umbruchs und der klaren Worte. Mit Wendungen wie "Wir müssen heraus aus der Holocaust-Nische und mitten hinein ins Leben" gab er dem im November die Richtung vor. Am Sonntag soll der 59-jährige Dieter Graumann an die Spitze des Zentralrats des Gremiums gewählt werden.
Charlotte Knobloch hatte im Februar bekannt gegeben bei dieser Wahl nicht mehr zu kandidieren. Sie reagierte damit auf Kritik aus eigenen Reihen. Ihr war vorgeworfen worden, das Judentum in Deutschland allein über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu definieren und dabei die Probleme jüdischer Gegenwart aus dem Blick zu verlieren.
Nun setzt man große Hoffnungen in einen, der die Schrecken der Shoa nicht unmittelbar erlebt hat. "Damit ergibt sich ein veränderter Blick", sagt Salomon Korn, alter und wahrscheinlich auch neuer Vizepräsident. "Die Nachgeborenen sehen sich nicht nur als Schicksalsgemeinschaft, sondern auch als Teil der gesamten demokratischen Gemeinschaft." Damit sei zu erwarten, dass "die Arbeit des Zentralrats über den unmittelbar jüdischen Bereich hinaus politischer wird".
Der künftige Vorsitzende Graumann wurde 1950 in Israel geboren, zog aber im Alter von eineinhalb Jahren mit seinen Eltern nach Frankfurt. Diese waren dem Massenmord der Nazis nur knapp entgangen. Zuletzt beteuerte Graumann in einer Rede zur Gedenkstunde an die Progromnacht, er werde "ganz bestimmt kein Vergessen zelebrieren". Sein Credo lautet: "Immer Holocaust-bewusst und doch nicht immerzu Holocaust-zentriert".
Mehr Hier und Jetzt
Der Generationswechsel im Zentralrat bedeutet jedoch nicht notwendigerweise eine fundamentale Kursänderung. Aber: "Die Palette politischer Themen wird sich auffächern", sagt Korn. Ein Zentralrat mit neuer Rolle, jünger und politischer, darauf hofft auch Lala Süßkind, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied im neunköpfigen Präsidium des Zentralsrats: "Er wird weniger die Opferrolle betonen, sondern mehr auf das Hier und Jetzt schauen."
Auch in der Vergangenheit hat Graumann den politischen Streit nicht gescheut. So forderte er die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zum Rücktritt auf, als diese während des Gazakriegs die Politik Israels als "völkerrechtswidrig" bezeichnete. Die Parteiführung der Linkspartei kritisierte er wegen ihrer "betont israelfeindlichen Politik", lobte aber gleichzeitig den Einsatz der Linken gegen Rechtsextremismus und Rassismus sowie deren Forderung nach einer Neuaufnahme des NPD-Verbotsverfahrens.
Die größte Herausforderung Graumanns wird es sein, die verschiedenen jüdischen Gruppierungen zu vertreten. Denn der Generationswechsel im Präsidium folgt einer längst veränderten Realität jüdischen Lebens in Deutschland: Die Zahl der Holocaust-Überlebenden wird immer kleiner, während die Zahl jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion immer größer geworden ist. Mittlerweile stellen sie 90 Prozent der etwa 110.000 Juden in Deutschland.
Tollkühner Spagat
Schon 2006 hatte Graumann mit großem Verhandlungsgeschick eine Abspaltung der liberalen Union Progressiver Juden verhindern können. Jetzt wird ihm zugetraut, das Mammut-Projekt Integration voranzubringen. "Er ist unter jüdischen Zuwanderern sehr geachtet, denn er hat sich immer für deren Belange eingesetzt", sagt Vizepräsident Korn.
2005 kämpfte Graumann in langwierigen Gesprächen mit den Innenministern erfolgreich gegen einen faktischen Zuzugsstopp jüdischer Einwanderer und machte damit klar, wofür er noch heute steht: "Pluralität ist die neue jüdische Normalität." Er will verhindern, dass die Vielfalt zu einer Zersplitterung führt, auch wenn das "einem tollkühnen Spagat" nahekomme. Seine Unterstützer sind optimistisch, dass ihm dieser Kurs gelingen kann: "Dieter Graumann hat die Fähigkeit zu einen", sagt Lala Süßkind.
Andere halten wenig davon, den Personalwechsel als Umbruch zu bewerten. Schließlich ist Graumann keineswegs neu in dem Gremium: Seit 2001 gehört er dem Präsidium an, die letzten vier Jahre als Zentralratsvize.
Sergey Lagodinsky, russischstämmiger Publizist und Vertreter der jungen, politisch-engagierten Juden in Deutschland, will nicht von einem Neuanfang sprechen: "Herr Graumann ist Teil des Establishments. Die Frage wird sein, wie er aus dieser Position die Kraft aufbringen wird, die verkrusteten Denkstrukturen im Zentralrat aufzubrechen."
Er wünsche sich tatsächliche "politische Arbeit", statt bloßer politischer Äußerungen: "Im Zentralrat glaubt man, schon durch politische Statements sei man politisch", so Lagodinsky. Das solle sich nun, bitte schön, ändern.