Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs "Meine Eltern haben mir viele Folgen ihrer Traumata vererbt"

Kinder im Jahr 1958
Foto: Keystone/ Getty Images
Matthias Lohre , Jahrgang 1976, stammt aus einem Dorf im Münsterland. Dort wuchs er mit seinen vier Geschwistern auf. Neun Jahre war er Redakteur bei der "taz", inzwischen arbeitet er freiberuflich als Journalist und Autor. Lohre lebt in Berlin. Er zählt sich zur Generation der Kriegsenkel - die Kinder der zwischen 1929 und 1947 Geborenen.
SPIEGEL ONLINE: Das Kriegsende liegt mehr als 70 Jahre zurück. Warum braucht es jetzt noch ein Buch darüber, was das Schweigen der Eltern mit uns macht?
Lohre: Ich habe bei einer Psychoanalyse gemerkt, dass meine Eltern mir viele Dinge mitgegeben haben - obwohl sie mir eigentlich immer fremd waren. Wie kann das sein?
SPIEGEL ONLINE: Die Antwort wollten Sie in Ihrer Familiengeschichte finden?
Lohre: Ja, aber das hat gedauert. Der Krieg war in der Familie Tabuthema, und ich hatte bis weit ins Erwachsenenleben eine Botschaft meiner Eltern verinnerlicht: Uns geht es doch gut. Ich dachte: Was bin ich doch für ein undankbares, wehleidiges Kind, wenn ich meine Kindheit hinterfrage. Genau dieser Gedanke hindert Kriegsenkel daran, ihre Familiengeschichte auszugraben.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben es aber doch getan - und ein Buch darüber geschrieben.
Lohre: Bei der Recherche taten sich Abgründe im Idyll auf. In ihrem vermeintlich sicheren Heimatdorf hatte meine Mutter als Siebenjährige Bombenangriffe nur knapp überlebt. Mein Vater war in der Schule von einem sadistischen Ex-Offizier regelmäßig verprügelt worden. Weil niemand ihre Not sah, mussten sie ihre Erfahrungen verdrängen oder für normal erklären: So war das halt damals. In Millionen Familien haben Kriegskinder eine Sache gelernt und ihren Kindern, den Kriegsenkeln wie mir, vermittelt: Stell dich nicht so an. Aber viele ihrer Erfahrungen waren eben außergewöhnlich und traumatisch. Und viele Folgen ihrer Traumata haben meine Eltern mir vererbt. Das war der Anlass für das Buch.
SPIEGEL ONLINE: Welche Erfahrungen meinen Sie?
Lohre: Meine Eltern haben als Kinder gelernt, dass der Krieg alles über den Haufen warf. Ich kann immer mehr anerkennen, was für einsame, von Ängsten und Zwängen geplagte Menschen sie waren. Ihren Kindern vermittelten sie: Die Realität ist trügerisch, gleich passiert etwas Schlimmes. Wir hatten ein Haus im Grünen, ein Auto, mein Vater war Postbeamter, wir waren materiell abgesichert. Dennoch waren meine Eltern angespannt und sichtbar unglücklich, ihr Leben freudlos. Dieses permanente Spannungsverhältnis hat sich auf mich übertragen.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Lohre: Ich dachte, wenn ich meine Eltern nicht glücklich machen kann, bin ich ein schlechtes Kind. Deshalb habe ich mich besonders brav verhalten, mich in mein Zimmer zurückgezogen, keinen Ärger gemacht und keine Aufmerksamkeit eingefordert. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals Kindergeburtstag gefeiert hätte - da hätten die Eltern ja Lärm und wild herumspielende Kinder ertragen müssen.
SPIEGEL ONLINE: Klingt insgesamt nach einer furchtbaren Kindheit.
Lohre: Bis vor ein paar Jahren hätte ich das vehement abgestritten. Inzwischen muss ich konstatieren: Materiell war ich gut versorgt, emotional war meine Kindheit entbehrungsreich. Ich habe erst im Nachhinein gemerkt, wie stark das verankert ist.
SPIEGEL ONLINE: Da waren Sie schon erwachsen. Haben Sie das Gefühl, Jahrzehnte Ihres Lebens sind verkehrt gelaufen?
Lohre: Ich habe viel Zeit damit verschwendet, Erfahrungen aus meiner Kindheit als junger Erwachsener zu reinszenieren. Zum Beispiel mit gescheiterten Beziehungen. Die Lehre aus meiner Kindheit war: Ich darf nicht zur Last fallen. Bei einem Streit mit einer Freundin hatte ich diesen Auftrag nicht erfüllt. Es war einfacher zu sagen: Ich trenne mich.
SPIEGEL ONLINE: Und im Beruf?
Lohre: War die Sorge, dass alles Geleistete nur Lug und Trug ist. Nach außen war ich wie viele Kriegsenkel bemüht, zu funktionieren: Ich schaffe keine Probleme, ich löse sie. Ich bin unkompliziert, ich bringe Leistung. Aber dahinter und daneben gab es das, was ich als Kind gelernt hatte: Ich bin nichts wert. Erst die Psychoanalyse hat mir Kraft für einen Neuanfang gegeben.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht der aus?
Lohre: Fünf Monate nach dem Tod meines Vaters habe ich meine heutige Verlobte kennengelernt. Ich konnte die Beziehung ehrlich beginnen. Ich habe nicht versucht, unkompliziert zu sein, sondern von Anfang an gesagt, was ich über mich herausgefunden habe. Ähnlich erging es mir beruflich. Meine Arbeit sollte mir die Bestätigung geben, die ich als Kind nicht erhalten hatte. Ich glaube, ich muss mir meinen Wert als Mensch durch Leistung erst "verdienen" - wie früher meine Eltern. Als ich das erkannte, habe ich gekündigt.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern ist Ihre Geschichte die Geschichte einer Generation?
Lohre: Es gibt nicht die vorschriftsmäßige Kriegskind- und Kriegsenkelkindheit. Aber Studien zeigen, dass sich bei vielen Kriegsenkeln Muster wiederholen: rastloser Arbeitssinn, emotionale Blockaden, ein geringes Selbstwertgefühl, zu wenig Nachsicht mit sich selbst. Mein Buch kann Lesern als Anhaltspunkt dienen zu sagen: Bei mir war es ähnlich. Und dann können sie in anderen Büchern oder im Gespräch mit Therapeuten oder Verwandten nachhorchen.
SPIEGEL ONLINE: Ist das der zentrale Appell des Buches?
Lohre: Auf jeden Fall: Guckt auf eure Familien und schaut, was das mit euch gemacht hat. Sprecht mit euren Eltern und Verwandten. Auch wenn das mit meinem Vater und meiner Mutter nicht geklappt hätte - viele ältere Menschen freuen sich, wenn man fragt, und erzählen gerne. Jetzt geht es uns materiell so gut, dass wir die Möglichkeit haben, diese Gespräche zu führen. Wir leben nicht zwischen Trümmern wie die Kriegskinder. Sie hatten keine Zeit, sich um ihre psychischen Probleme zu kümmern. Viele Kriegsenkel scheuen diese Konfrontation - die Angst vor dem, was man möglicherweise entdeckt, ist riesig. Aber die Botschaft meines Buches ist: Nach fest kommt nicht ab, sondern locker. Man bricht nicht auseinander, es entspannt sich vieles.
Der Autor auf Twitter: