KIRCHE Gottes heiliger Narr
Da ist es wieder. Im Hohen Dom zu Köln. Gerade noch hat der Erzbischof mit ausgebreiteten Armen auf der Kanzel gestanden und gepredigt über die Gottvergessenheit der Welt, und siehe da, es ist alles gutgegangen. Bis jetzt.
Weihrauch steht über den gefüllten Bänken. Und nun, wo Chor und Streicher sich schon bereitmachen, zum Abschluss des Pontifikalamts das Halleluja zu händeln, geht Joachim Kardinal Meisner noch einmal nach vorn. Ein Kardinal aus Tokio ist gekommen, und Meisner möchte sich bei dem Gast bedanken. Er sagt: »Alte Liebe rostet nicht ...« Es ist der 20. April. »Führers Geburtstag«. Japan war eine der Achsenmächte. Irgendetwas drängt Meisner, jetzt noch einen Satz anzufügen. Er sagt: »... wir stehen treu zu Tokio!«
In Treue fest. Da war es wieder. Ein unschuldiger, nett gemeinter Satz, der dennoch im Ohr schmerzt. Als gäbe es keine harmlosen Worte in diesem Land, als hätten alle Sätze ihre Unschuld verloren. Und nur einer merkt das nicht. Es gilt das gesprochene Wort.
Joachim Kardinal Meisner hat eine Aufgabe in der Bundesrepublik. Wenn auch keine, die er sich ausgesucht hätte. Er will das Gewissen der Deutschen sein und ist ihr Popanz. Er will Hirte sein und ist Sündenbock. Wenn er über das Ewige predigt, über die Kunst, die Schöpfung, den Kultus, dann verschlingt ihn die Tagespolitik. Meisner ist die Antiautorität im Land, der Buhmann der Nation. Er vergleicht die Abtreibungspille RU 486 mit Zyklon B. Er sagt Sätze wie: »Der Seelenkrebs einer Negativmalaria, der depressiven Kritiksucht, scheint wie eine geistige Epidemie über der Kirche und über Deutschland zu liegen.«
Meisner ist zuständig fürs Grobkonservative in der Konsensrepublik der Angela Merkel. Er hat eine Rolle, die früher einmal Franz Josef Strauß hatte, eine Zeitlang Roland Koch. Oder Eva Herman. Für die aufgeklärte Öffentlichkeit ist der Mann völlig unmöglich, er ist ihr bestenfalls egal. In jedem Fall indiskutabel.
Für den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland ist Meisner »ein notorischer geistiger Brandstifter«. Der Grüne Volker Beck nannte ihn »einen Hassprediger« und nahm dieses Wort später im Vergleich mit dem Kardinal zurück. Guido Westerwelle bezeichnete Äußerungen Meisners als »intolerant, ignorant und für einen so bedeutenden Kirchenmann unwürdig« - Meisner hatte gerade vor einer entartenden Kultur gewarnt.
Der Amtssitz des Kölner Erzbischofs ist ein niedriger Ziegelsteinbau mit zwei goldenen, sich windenden Schlangen über dem Eingang und einem Klingelschild: »Meisner (privat)«.
Der Kardinal ist noch in einer Besprechung. Seine beiden Pressesprecher bitten um Geduld. Dann kommt Meisner herein, etwas gebeugt, dabei gutgelaunt und aufgeräumt. Auf älteren Fotos trug er eine schwarze Brille volkseigener Produktion und erinnerte immer ein wenig an den Grenzoffizier am Kontrollpunkt Dreilinden. Die Brille ist moderner, die Nase allerdings noch spitzer, alle Gesichtszüge haben die Nasenspitze als Fluchtpunkt. »Raubvogelhaft« sei das, so wurde geschrieben.
In direktem Umgang ist der Kardinal allerdings ein durchaus liebenswürdiger Raubvogel, bescheiden und von gewinnendem Wesen, wie er selbst immer wieder feststellen darf: »Ich erlebe immer wieder, dass Menschen, die mir begegnen, hinterher sagen: ,Sie sind ja ganz anders.' Das ist angenehm, aber auch davon darf ich mich nicht abhängig machen. Das Programm meines Lebens ist, Christus berührbar zu machen, nicht, mich berührbar zu machen.«
Eine Sekretärin bringt Gebäck und Kaffee. Die beiden Pressesprecher sitzen mit am Tisch. Sie essen keine Kekse. »Die Nah- und Fernwahrnehmung«, sagt Meisner, »klafft wirklich oft sehr weit auseinander. Ich frage mich immer wieder vor meinem Gewissen, wie weit das an mir selbst liegt und wie weit an den Medien. Für manchen bin ich nun mal der Buhmann der Nation oder der Kirche. Aber glauben Sie bitte nicht, dass mir das Spaß macht.«
Immer wenn die Medien ein rotes Tuch brauchten, sagt der Kardinal, ziehe man den Meisner aus der Schublade. Er habe den Eindruck, dass auch die Fotos schon entsprechend ausgesucht würden. Es ist ein Teufelskreis. Und das ist keine bloße Metapher.
Wenn man ihn fragt, weshalb die Medien so ein schlechtes Bild von ihm zeichneten, dann spricht Joachim Meisner vom Leibhaftigen. Er sagt, der Teufel mache sich von jedem Kirchenmann ein Psychogramm und umstelle ihn, damit die positiven Sätze und Taten in seine Strategie eingepasst würden.
Im Fall des Kölner Erzbischofs hat sich der Dämon Mühe gegeben, als wollte er des Teufels Kardinal kreieren. Kaum einem anderen Kirchenmann entschlüpfen so viele Fehlleistungen. Homosexualität sei etwas, was man »ausschwitzen« müsse, sagte er einmal. Man darf ihm glauben, dabei nicht an die Lager gedacht zu haben. Das macht es nicht besser.
Meisner gilt als einer der besten Prediger der Deutschen Bischofskonferenz. Er hat eine jungenhafte Freude am Hantieren mit Metaphern, besonders wenn sie sperrig sind. »Das müssten Sie doch erkennen, dass keine Atombombe eine solche Sprengwirkung hat wie der Satz: Mit dem Tod ist alles aus!« Predigte er am Ostersonntag.
Diese Sätze sind weder beabsichtigt, noch sind sie Pannen. Es sind gezielte Pannen, gesteuert wohl vom Unbewussten, von der Sprache, von der eigenen Biografie. Oder eben vom Leibhaftigen.
Meisner sagt, er leide unter den Missverständnissen: »Jemanden bewusst zu provozieren oder abzuschrecken ist nicht meine Absicht. Das würde ja dem Ziel, Christus berührbar zu machen, zuwiderlaufen. Ich stelle aber im Nachhinein fest, dass manche Äußerungen Provokationen gewesen sein müssen. Dann frage ich mich manchmal schon: Welche Sprache muss ein Bischof in unserer Mediengesellschaft sprechen, damit die Botschaft klar herüberkommt? Und muss nicht eine moderne, offene Mediengesellschaft auch in der Lage sein, die gelegentliche Anstößigkeit eines Bischofswortes zu tolerieren? Ich bin als Bischof gerufen zu verkünden, sei es gelegen oder ungelegen.«
Das sind autorisierte Sätze. In der freien Rede fällt recht schnell eine Eigenheit an Joachim Meisner auf. Er beginnt seine Gedanken gern mit der Floskel: »Ich muss mal so sagen ...« Als habe er die Mission, etwas auf eigene Weise sagen zu müssen. Mit der Betonung auf müssen.
Das Symbol einer solchen weltlosen Kirche wäre die Giraffe. Sie trägt den Kopf auf einem sehr langen Hals, hoch in den Wolken, so dass sie kaum sieht, was auf der armen, blutgetränkten Erde vor sich geht. Und mit vier langen dünnen Beinen hält sie ihren Körper auf sparsamste Distanz zu unserer armen Erde. Und schließlich kann sie keine Lasten tragen. Die Giraffe ist also so etwas wie ein Antisymbol zum Christen (Meisner, Pontifikalamt im Hohen Dom zu Köln, 20. April 2008).
Deutschland braucht Meisner. Das sagt Manfred Lütz, Psychiater aus Köln: »Es gibt in unserer vaterlosen Gesellschaft so gut wie keine Autoritäten mehr, die protestabel sind. Da ist Kardinal Meisner geradezu erforderlich. Er ist ein Bischof, der diese Rolle nicht dementiert. Viele wollen lieber nett sein und lieb. Die sagen nie etwas Falsches, die bestehen nur noch aus Verpackungsmaterial. Er nicht.«
Lütz ist auch Theologe und hat gerade einen Bestseller über »Gott« geschrieben. Lütz gehört zu den Verteidigern des Kölner Kardinals: »Er ist sehr unmittelbar und eben nicht diplomatisch. Das finde ich sehr sympathisch.«
Doch Meisner werde nicht nur von der gottvergessenen Bundesrepublik gebraucht. Auch die Kirche habe ihn nötig: »Kein Katholik«, sagt Lütz, »darf heute mehr etwas Negatives über Protestanten sagen und umgekehrt. Also hat sich der Schlachtenlärm ins Innerkirchliche verlagert. Man braucht Meisner als Protagonisten der konservativen Gruppierung.«
Dabei habe sein Bischof es mit radikal Konservativen überhaupt nicht im Sinn: »Meisner setzt sich für den Bau einer Kölner Moschee ein. Kein deutscher Bischof hat mehr für die deutsch-polnische Aussöhnung getan. In der Bioethikfrage ist der Meisner weitgehend auf der Seite der Grünen. Aber all das wird von außen gar nicht wahrgenommen.« Sagt Manfred Lütz.
Am 25. Juni 1997 debattierte der Bundestag, ob einem hirntoten Menschen Organe entnommen werden dürften. Die Abgeordnete der Grünen, Monika Knoche, sagte: »Sie wissen, dass Herr Kardinal Meisner ausdrücklich darauf hinweist, dass es nicht
Aufgabe der Politik ist, einen neuen Tod festzuschreiben. Es wird Sie vielleicht wundern, dass ich mich darauf berufe.« Das Protokoll vermerkt »Zurufe von der CDU/CSU«.
Monika Knoche ist heute bei der Linken. Sie sagt: »Meisner vertritt fundamentale Positionen. Man kann sich an ihm reiben. Ich halte sein Frauen- und sein Mutterbild für falsch. Aber in der Stammzellendebatte teilt die Mehrheit meiner Fraktion seinen Standpunkt. Die menschliche Existenz darf vom Zeitpunkt der Befruchtung an nicht anderen Zwecken unterworfen werden als den eigenen.«
Nach einer mehrstündigen Audienz beim Kardinal sei sie, sagt Knoche, »mit einem angenehmen Gefühl gegangen«. Beide sind weiter in Kontakt, die Linke und der »Gotteskrieger vom Rhein«, wie ihn der SPIEGEL einmal genannt hat.
Als kürzlich die Forschungsministerin Annette Schavan neue Stammzelllinien freigeben wollte, ließ der Bannspruch aus Köln nicht lange auf sich warten: »Es ist tragisch«, erklärte Meisner, »wie eine Ministerin unter dem Druck von Interessenvertretern christliche Prinzipien aufgibt.«
In der Organentnahme- und der Stammzellendebatte steht der Kardinal jedenfalls näher bei den Grünen als bei der CDU. Was nicht unbedingt gegen die CDU sprechen muss.
In einer Welt und Gesellschaft, in der keine Transzendenz möglich ist, weil der Himmel abgeschafft wurde, in der es also keinen Überstieg mehr gibt, ist der Ausstieg schon vorprogrammiert. Dort entsteht keine Kultur, sondern eine Subkultur: Die Aussteiger, etwa in die Welt der Drogen, schaffen sich ihr eigenes kulturelles Umfeld, das eigentlich diesen Namen gar nicht verdient (Meisner, 20. April 2008).
Meisner wurde 1933 in Breslau geboren. Der Vater blieb im Krieg, die Familie flüchtete aus Schlesien nach Thüringen. Er wuchs vaterlos auf in der Fremde, und seither hat Glaube für ihn etwas zu tun mit »Mutter«, »Heimat«, »Wurzel«, drei seiner Lieblingsbegriffe. Meisner liebt das beschauliche Reden. Wenn er spricht, dann weihnachtet es sehr, und man schaut unwillkürlich, ob irgendwo ein trautes Mütterlein am Herde strickt.
Es fehlte der Vater. Vielleicht kommt daher auch seine starke Marienverehrung, ungewöhnlich im deutschen Katholizismus. Nach einer Banklehre ging Meisner ins Spätberufenenseminar in Magdeburg. Dabei hatte er nie den geringsten Zweifel an seiner Bestimmung: »Es gab kein Paulus-Erlebnis bei mir. Ich kann im Rückblick nur mit besonderer Dankbarkeit betrachten, wie sozusagen selbstverständlich ich in den katholischen Glauben und das Priestertum hineingewachsen bin. Ich kann auch nicht sagen, dass ich eine Berufungskrise während der Ausbildung hatte.«
Er wurde Kaplan in Heiligenstadt, später Weihbischof in Erfurt, 1980 Bischof von Berlin. In der DDR war die katholische Kirche eine Minderheitenkirche. Man hielt zusammen und mischte sich nicht in die Politik. Einer seiner Messdiener hieß Dieter Althaus, heute Thüringens Ministerpräsident.
Meisner ist ein Heimatvertriebener Gottes geblieben. Fremd im Osten, fremd im Westen, fremd in der Gegenwart, aber von der Gewissheit getragen, in höherem Auftrag zu handeln. »Ich habe nie meine Eltern gefragt, ob sie mich wollten oder ob ich ein Zufall war«, sagt er. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass Gott mich will. Sonst wäre ich nicht hier. Und so ähnlich ist das, glaube ich, mit der Berufung nach Köln. Gott wollte mich hier.«
Und der stand damals, 1988, ziemlich allein mit seiner Entscheidung, Meisner zum Kardinal von Köln zu machen. Die Kölner wollten diesen Schlesier mit der VEB-Brille nicht, der da aus Ost-Berlin kam, dem Jenseits der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Domherren versuchten, ihn mit allen Mitteln fernzuhalten, die öffentliche Meinung warf das Tintenfass gegen ihn. Aber das kannte Meisner schon. In 40 Jahren Ghettokatholizismus unterm Kreuz der SED hatte er gelernt, dass man sich Wort und Willen nicht verbieten lassen darf.
Auch Meisner wäre gern in Berlin geblieben. Er reiste vergeblich nach Castelgandolfo, um Johannes Paul II. den Wechsel auszureden. Meisner hat inzwischen seinen Frieden mit Köln gemacht. Oder, wie er es einmal formulierte: »Wenn man dort ist, wo man nicht hinwollte, ist man wahrscheinlich auf dem richtigen Platz.«
Im nördlichen Querhaus des Doms, über dem Eingang zur Schatzkammer, wird für jedes Amtsjahr des Erzbischofs eine vergoldete »Jahresstange« aufgehängt. 19 sind es mittlerweile, sie hängen dort über den Köpfen der Kölner wie Trophäen. Jedes Jahr ein Stöckchen mehr. Für manchen goldgefasste Prügelstöcke, für manchen Marken auf dem Wege der Mission.
Die Kölner hatten sich vorgenommen, den Schlesier auszusitzen. Jetzt hat Meisner sie ausgesessen. Das Generalvikariat ist besetzt mit Leuten seines Schlages, die
aber 40 Jahre jünger sind. Meisners Pressesprecher ist Mitglied im Opus Dei. Generalvikar Dominik Schwaderlapp steht der streng konservativen Kaderorganisation bekanntermaßen nahe.
Als Hirte muss Meisner versagt haben, die Schafe sind verschreckt und ducken sich in die Furchen. Es ist schwer, in Köln jemanden zu finden, der nicht nur anonym über seinen Erzbischof reden möchte. »Das ist für lange Zeit gelaufen«, sagt ein Insider. »Das ganze Erzbistum ist gleichgeschaltet, alles zittert, man hat Angst vorm Verlust der Mittel und der eigenen Planstelle. Er kann jederzeit alle Mittel streichen.«
Der liberalen Karl-Rahner-Akademie, einer der angesehensten Bildungseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen, wurden alle Zuschüsse gestrichen.
Meisner ist mächtig. Nicht nur als Herr über Deutschlands größte Diözese mit 2,2 Millionen Katholiken und einem Etat von 672 Millionen Euro. In Rom sitzt er in der Kongregation, wo die Bischöfe ernannt werden. Als dienstältestes Mitglied hat er seinen Platz in den Sitzungen gleich unterhalb des Vorsitzenden. Damit gebührt ihm das oft entscheidende erste Wort.
Als im Sommer 2005 im Vatikan die Sonderbriefmarke zum Weltjugendtag prä-
sentiert wurde, nahm Meisner auch den Papst an der Soutane und schob ihn an die richtige Stelle im Raum, mit den Worten: »Heiliger Vater, du stehst in der Mitte« -
»Der schiebt mich überallhin«, meinte daraufhin der Papst.
»Er ist ein knallharter Machttaktiker, der seine Leute zu positionieren weiß und der einem nichts vergisst.« Sagt einer, der unter ihm gelitten hat. Und ein anderer, jedes Ketzertums unverdächtig, beschreibt seinen Herrn: »Er genießt es, hofiert zu werden, und kann keinen Widerspruch ertragen. Im Priesterrat gibt es keine Diskussion mehr. Inzwischen ist er nur von Hofschranzen umgeben.«
Das wird auch auf manche Chefetage zutreffen. Doch ist eine Kirche kein System der Managermacht, sondern vom Anspruch her eine Gemeinschaft der Freien.
Die liberalen, sogenannten Konzilstheologen führen ein Dasein im Untergrund. »Viele jüngere Priester gehen in die Krankenhäuser, suchen sich ihre Nischen in der Kategorialseelsorge. Da haben sich inzwischen Parallelgemeinden entwickelt«, sagt ein von Meisner selbst Geweihter. Es klingt wie zur Zeit der Katakomben-Christen.
Jeder, der versucht, das Geistige vom Fleisch, die Kirche von der Welt, Gott vom Menschen, den Kultus von der Kultur zu trennen - und umgekehrt -, verkennt die Christuswirklichkeit, denn Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Die Kultur vom Kultus zu trennen hieße, die Kultur zur Form ohne Inhalt degenerieren zu lassen (Meisner, 20. April 2008).
Während der Messe im Dom sitzt Meisner, zusammengesunken auf seinem Bischofsthron, genau im Lichtschein des südlichen Querhausfensters. Das Fenster besteht aus 11 500 Farbquadraten und wurde von Gerhard Richter entworfen, ein kompliziertes Spiel aus Zufall und Eingriff, unfassbar und schön und insofern durchaus ein Abbild göttlicher Ordnung.
Meisner hasst das Fenster. Kein einziges Mal wird er während der Messe zum Himmelslicht schauen. Das Fenster wird boykottiert. Verhindern konnte er es nicht, weil das autonome Domkapitel nicht dem Bistum untersteht. Meisner hätte lieber figürliche Motive gesehen, Märtyrer des 20. Jahrhunderts wie die heilige Edith Stein.
Einer Lokalzeitung sagte er: »Das Fenster passt nicht in den Dom. Es passt eher in eine Moschee oder in ein Gebetshaus.«
Und wieder war es ein Skandal. Dabei war sein Argument gar nicht so hinterwäldlerisch. Das katholische Christentum ist eine figürliche Religion, mit einem menschgewordenen, vorstellbaren Gott. Islam und Protestantismus waren auch Reaktionen gegen den Bilderkult von Byzanz und Rom. Meisner hatte recht, nur hätte er weiterfragen müssen: Warum geht so etwas nicht mehr? Weil der figürliche Gott und seine Bilder längst verschwunden sind, und das nicht nur aus Köln.
Kurioserweise verdanken die Kölner ihrem Erzbischof ein durchaus erstaunliches und modernes Bauwerk: das Diözesanmuseum Kolumba. Ein heller, streng durchkomponierter Neubau im Zentrum, den der Architekt Peter Zumthor auf die Ruinen der romanischen Kolumbakirche gestellt hat. Mit raumhohen Fenstern und einer Sammlung, die nicht weniger zeitgenössisch ist als die Kasseler Documenta. Da baumelt ein Trash-Objekt von Paul Thek von der Decke, und zwischen Madonnen und Reliquienkästchen hängen Monochrome und ein Warhol, stehen Readymades und Werke von Beuys, George Grosz, Rebecca Horn.
Mit dem Kolumba wollte Meisner den Kölnern in Erinnerung bleiben, als Gönner und Kenner der Modernen. Die Eröffnung war für ihn so etwas wie der Schlussstein seiner Amtszeit. Er sprach in seiner Predigt sogar von dem Schweigen der Kunst nach Auschwitz. Aber in Erinnerung blieb der Unsatz von der »entartenden Kultur«. Es hat etwas Tragisches, wenn die beiden letzten Meisner-Skandale von Äußerungen über Kunst ausgelöst wurden.
Unser Papst hat in den drei Jahren seines Pontifikates mehr zum kulturellen Niveau der Menschheit beigetragen als viele Minister und Vorsteher von Kulturministerien und ähnlichen Einrichtungen. Denn der Papst verkündet Christus (Meisner, 20. April 2008).
In einer Schrebergartensiedlung in Köln-Zollstock lebt der ehemalige Dominikanermönch Hans Conrad Zander, ein Schweizer von Geburt, der vom Kardinal zum persönlichen »Erbfeind« erklärt wurde. Zander schreibt Bücher über die Inquisition und den Rosenkranz und ist einer der wenigen Kölner Katholiken, die noch den Mut haben, sich öffentlich ihres Verstands zu bedienen, wenn es um ihren Bischof geht.
»Der Mann ist falsch am Platz in Köln«, sagt Zander. »Das hier ist fast eine Großstadt, sie ist offen nach allen Seiten. Meisners Zwangsvorstellung, Religion sei kampfbereite Mannestreue für den Papst, stammt dagegen aus der stickigsten Provinz. Von dort stammen auch seine Gesten pastoraler Anbiederung. Wenn er sich nach der Messe vor die Kirche stellt und jedem seinen Händedruck aufdrängt. Meisner wäre phantastisch als Baptistenprediger in Wyoming.«
Mit konservativ habe das nichts zu tun. Wenn der Papst die Anweisung geben würde, die Messe auf Chinesisch zu lesen, sagt Zander, dann würde Kardinal Meisner sofort die Messe auf Chinesisch lesen.
Gar nicht verzeihen mag Zander dem Kardinal etwas, worauf dieser sehr stolz ist: seinen Humor. »Der ist weniger harmlos, als es scheint. In Wirklichkeit ist sein Humor ein Mittel der Machtausübung.«
Er erzählt, wie Meisner ein Kloster in Neuss besuchte. Er ging auf eine Gruppe von Schwestern zu und sprach zielgerichtet die schüchternste und armseligste an: »Grüß Gott, Schwester Oberin!« Die versank im Boden, sagte, sie sei doch nicht die Oberin. Meisner: »Ach nein? Hätte doch sein können, oder?«
Das ist Frechheit von oben nach unten, die den Unteren bloßstellen und unsicher machen soll. Der echt katholische Kölner Humor dagegen sei komplizenhaft, mit schelmischem Understatement.
Das eigentliche Problem aber sei, sagt Zander, nicht der Kardinal, sondern die Feigheit der Kölner Katholiken: »Der Kölner Katholizismus ist liebenswürdig, aber auch duckmäuserisch und unvorstellbar feig. Im Schweizer Bistum Chur dagegen haben sich 1997 die Gläubigen vor die Kirchentore gelegt, um den ungewollten Bischof fernzuhalten. Der bekam so lange keinen Fuß auf den Boden, bis der Papst ihn nach Liechtenstein wegbeförderte. Das Üble an der Tyrannis, sagt der heilige Thomas von Aquin, ist, dass die Menschen so dumpf werden.«
Allerdings hat auch der strenge Zander in letzter Zeit neue Züge an Meisner entdeckt. Er sei immer weniger der Wortführer der fundamentalistischen Rechten. Die Rolle spielt jetzt Augsburgs Bischof Walter Mixa. Der Kardinal erinnere ihn, sagt Zander, an eine Figur aus Brechts Kalendergeschichten: »Meisner hat jetzt, mit 74 Jahren, Züge eines unwürdigen Greises im Brechtschen Sinne. Die Maske fängt an, sich etwas aufzulösen. Er macht Bemerkungen, ohne dass es machtpolitisch opportun wäre und ohne dass es darum ginge, jemanden wegzustoßen. Seine Kritik am Domfenster war gescheiter als die Gegenthese, moderne Kunst sei aus sich selber Offenbarung und Professor Richters Ruhm habe transzendentale Bedeutung.«
Der Mensch soll und darf an der Souveränität und Freiheit Gottes teilnehmen. Er ist nicht so wie das Tier in die Mechanismen des Lebens eingespannt. Der Mensch kann aussteigen. Er muss nicht täglich wie ein Maulwurf die Erde durchwühlen (Meisner, 20. April 2008).
Nach dem Pontifikalamt geht Kardinal Meisner im kalten Niesel über die Domplatte, grüßt die Touristen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, beugt sich über einen Kinderwagen, in dem ein schwarzes Baby liegt, sagt auf Italienisch zu seinem Kollegen aus Tokio: »Das ist die Zukunft der Kirche ...«, plaudert noch ein Weilchen mit anderen Dombesuchern, und es ist zu sehen, dass er jetzt glücklich ist.
Wer ist Joachim Kardinal Meisner? Außerhalb Kölns ist den meisten Deutschen diese Frage vermutlich denkbar gleichgültig. Für sie ist »Rosenkranz« ein Wort aus der Haus-und-Garten-Abteilung. Und Kardinäle, altmodische Männer in langen Röcken, taugen in Deutschland für leichte Brüller im Kabarett. Aber nicht für die Lebensplanung. Der Alltag ist zu kompliziert für Sätze wie: »Unsere Schulen müssen Glaubensschulen sein, um Schulen fürs Leben sein zu können« (sagt Meisner).
In letzter Zeit sieht Meisner sich öfter in der Rolle des heiligen Narren, und das sei auch gut so: »Denn ein Narr ist jemand, der sich nicht anpasst, sondern er ist anders als die Übrigen. Narren dürfen das ins Wort fassen, was sonst niemand zu sagen vermochte.« So im November 2007 bei der Vesperpredigt im Collegium Albertinum in Bonn.
Schwer zu sagen, was die Kölner von ihrem Kardinal halten, nach 19 langen Jahresstäben. Einer, ein Mann Anfang fünfzig mit dem Namen Müller, sagt - und man muss sich den Satz in breitestem Kölsch vorstellen: »Ich mag den Kardinal. Er sagt das, was ihm aus seiner Schnauze kommt, ohne lange nachzudenken. Er tut mir nichts, ich tu ihm nichts.«
Amen. Es gilt das gesprochene Wort.
* Am 18. August 2005 beim Weltjugendtag in Köln.