EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Gratis zur Hölle
Die beiden Gutscheine, die Evelyn Border zuerst glücklich und dann zur Verbrecherin machen sollten, lagen auf einem Pappkarton im Supermarkt, und sie sahen nicht so aus, als ob sie jemandem gehörten.
Evelyn Border, keine Vorstrafen, Mutter einer Tochter, Großmutter zweier Enkel, Besitzerin zweier Dackel, stand in der Elektroabteilung der Walmart-Filiale von Bedford, Pennsylvania, stand zwischen Fernsehern und Küchengeräten, schaute sich um, sah niemanden, dachte nicht groß nach, griff zu, ging weiter. Es waren zwei Geschenkgutscheine, ausgestellt von Walmart. Das Gutschein- und Rabatt- und Special-Offer-Wesen in den USA ist fast schon aufdringlich. Evelyn Border dachte deshalb nicht groß nach und gab die Gutscheine ihrer erwachsenen Tochter Tina. Sie sahen aus wie bunte Kreditkarten, eine im Wert von 30, eine im Wert von 50 Dollar, viel Geld für Evelyn Border.
Finderglück, habe sie sich noch gedacht. Wenige Tage später saß Border auf der Polizeistation von Bedford, und ihr Bein war an eine Metallbank gekettet. Man hatte sie festgenommen, sie und ihre Tochter Tina.
Sie seien Diebinnen, von der Sicherheitskamera eindeutig überführt. Die Tochter wurde gefilmt, als sie die Gutscheine an der Kasse einlöste. Fotos wurden gemacht, Fingerabdrücke genommen. »Wissen Sie, dass Sie einem neunjährigen Mädchen sein Geburtstagsgeschenk gestohlen haben?«, fragte der Polizist die beiden Frauen.
Evelyn Border, 56 Jahre alt, eine kleine runde Frau mit einem freundlichen runden Gesicht, hatte sich, so sagt sie es, stets bemüht, anständig durchs Leben zu gehen. Nicht mal ein Parkticket habe sie bekommen, in 56 Jahren. Bedford ist ein 3000-Einwohner-Ort mit flachen Häusern und breiten Straßen, sie hatte hier als Kellnerin gearbeitet in einem dieser amerikanischen Parkplatzrestaurants. Kaffee ausgeschenkt, Eier gebraten, 20 Jahre lang, bis sie die Arthritis in den Fernsehsessel zwang. Von nun an lebte sie von einer Behindertenrente, 600 Dollar, etwas mehr Geld wäre schön. Aber deshalb ein kleines Kind bestehlen?
Der Pranger ist ein mittelalterliches Strafwerkzeug. Diebe, Betrüger wurden auf Marktplätzen zur Schau gestellt, an Holzpfähle gebunden, der Kopf fixiert. Das ist Jahrhunderte her.
In Bedford, Pennsylvania, aber, so musste es sich Staatsanwalt Higgins gedacht haben, als er den Fall von Evelyn Border betrachtete, war es an der Zeit, Strafen dieser Art wieder einzuführen. War der Pranger, als Werkzeug zur Abschreckung, nicht perfekt?
»Der Staatsanwalt bietet Ihnen drei Optionen an«, sagte die Pflichtverteidigerin. »Erstens: ein halbes Jahr Gefängnis. Zweitens: viereinhalb Stunden öffentliche Demütigung, Eintrag ins Vorstrafenregister. Drittens: acht Stunden Demütigung, keine Vorstrafe.« Wenn Evelyn Border und ihre Tochter sich an den Pranger stellen würden, das war also das Angebot des Staatsanwalts, dann würde er den Richter bitten, auf eine Gefängnisstrafe zu verzichten.
Evelyn Border ist eine Frau, die sich nicht auskennt mit dem amerikanischen Rechtssystem. Sie wusste nicht genau, wo die Grenze verläuft zwischen Justiz und Selbstjustiz. Sie wusste nicht, dass es falsch ist, bestraft zu werden, bevor man den Richter überhaupt gesehen hat. Was sie wusste: Sie hatte panische Angst vor dem Gefängnis, und für eine gute Verteidigung fehlte ihr das Geld.
Es ist neun Uhr, ein Dienstag im November, als sie ihren Klappstuhl auf dem Bürgersteig gegenüber dem Gerichtsgebäude aufstellt. Evelyn Border hat sich einen dicken Pulli angezogen, darüber ihre lilafarbene Winterjacke; trotzdem ist ihr kalt. Sie soll ein Schild halten, viereinhalb Stunden lang, darauf ist in schwarzen Lettern zu lesen: »Ich habe ein neunjähriges Kind an seinem Geburtstag bestohlen! Stiehl nicht, dir könnte dasselbe passieren.«
Das Schild ist so groß, dass Border gerade so darüber hinwegschauen, sich aber unmöglich dahinter verstecken kann. Sie sieht die Passanten, die sie begaffen, sieht die Autofahrer, Nachbarn. Gegenüber sieht sie nun auch ihre 35-jährige Tochter stehen, sie hält ein Schild mit derselben Aufschrift.
Nicht weit von ihr baut sich nun auch Staatsanwalt Bill Higgins auf. Der Mann, so scheint es ihr, hat sich herausgeputzt für diesen Tag, die Haare fein gegelt, der Anzug sitzt prächtig. Kamerateams sind angereist, die gesamte Nation soll von Evelyn Borders Tat erfahren.
Es ist der Tag der Gerechtigkeit für Staatsanwalt Higgins; für Evelyn Border ein Tag des Unrechts, es ist die Hölle.
Einmal darf sie zur Toilette, während sie am Pranger sitzt, einmal ins Auto, um ihre Finger aufzutauen. Als sie am Nachmittag durchgefroren, erschöpft, gedemütigt nach Hause fährt, schließt sie sich ein, allein, dreht die Heizungen auf, und die Tränen steigen ihr in die Augen. Muss sie jetzt wegziehen? Hat sie für immer ihr Gesicht verloren?"Ich weiß ja, wer ich bin«, denkt sie, »aber für wen halten mich die anderen?«
Sie redet jetzt viel mit Nachbarn und Freunden. Ich habe das Mädchen nicht beklaut, sagt sie ihnen, ich bin nicht so ein Mensch. Anfang Dezember war der Gerichtstermin, die Strafe gilt als verbüßt. Auf den Fotos, die um die Welt gingen, aber bleibt Border für immer eine Verbrecherin. DIALIKA KRAHE