Warum Berliner ab und an zum Feiern aufs Land fahren sollten
bento-Kolumnist Max erklärt Brandenburg und MeckPomm zum Mekka.
Von
Max Deibert
Man darf ohne schlechtes Gewissen früh schlafen, weil es eh nichts zu verpassen gibt.
Dieser Beitrag wurde am 14.05.2016 auf bento.de veröffentlicht.
Wir fahren mit dem Regionalexpress bis nach Werder. In Brandenburg. Im Zug laufen nur Verstrahlte rum. Einer mit Bart pöbelt "40 Jahre Überwachungsstaat – überwacht mal euer Benehmen", dann will er sich mit mir über Bücher unterhalten und schlägt "Mein Kampf" vor.
Ich tue so, als würde ich schlafen.
Warum den weiten Weg nach Werder, um ein Fest wie dieses zu besuchen? In Berlin gibt es genug Partys, Open Airs, fließende Gewässer, an denen man Bier trinken kann.
Dort allerdings wird meine Freundin auch von Typen mit geweiteten Pupillen angetanzt. Da fahren Bierbikes. Da muss man einmal falsch abbiegen, um in einer Gruppe koreanischer Touristen gefangen zu sein.
Auch dafür liebe ich Berlin. Aber wenn das erste Mal die Sonne länger als drei Minuten scheint, will ich das in Ruhe genießen. Das geht am entspanntesten außerhalb.
In Werder am Bahnhof haben ein paar Polizisten Sperrzäune aufgebaut, die sehen wichtig aus, auch wenn sie nichts absperren. Wir werden von der Masse der U18-Brandenburg-und-Umland-Kids mitgeschwemmt. Sie pumpen über ihre Boxen Songs wie "Tsunami" oder "Atemlos" und tragen T-Shirts auf denen "New York is not enough" steht.
Am Straßenrand sind Stände aufgebaut, die selbstgemachten Wein in verschiedenen Geschmacksrichtungen anbieten. Es gibt Honig, Johannisbeere, Himbeere, Kirsche, oder "Männerteam" und "Giftmischung". Wir suchen uns einen Stand aus, an dem die Angestellten Trachten tragen, sie servieren Wein in Plastikbechern. Um 12 Uhr mittags im Sonnenschein wandert beides ohne Umwege in den Kopf.
Brandenburg und MeckPomm, das sind die Mekkas der Stressed-Out-Jungen-Menschen der Großstadt. Die Landflucht ist kurz, erholsam, alkoholreich. Hier gibt es nicht so viel Polizei und deutlich mehr Strand. Man darf ohne schlechtes Gewissen früh nach Hause gehen, weil es eh nichts zu verpassen gibt.
So ist dann das eigentliche Baumblütenfest auch leider schlecht: Auf den Livebühnen läuft "Die eine, die immer lacht". Die Wiesen sind zertrampelt und verschlammt, die Dixi-Klos nahezu überschwemmt, die Bratwurst nur zur Hälfte durch und die Familienväter tragen "Die Atzen Tour 2006"-T-Shirts. Beim Dosenwerfen räumen wir in drei Runden nie mehr als den Trostpreis ab.
Wir haben es uns deswegen mit unserem Wein etwas abseits gemütlich gemacht.
In Berlin ist – zumindest unterschwellig – immer ein gewisser Druck vorhanden, jeden freien Abend den besten aller Zeiten werden zu lassen.
Egal, wie cool die Party ist, die man besucht, es wird irgendwo in der Stadt eine bessere geben. Daran erinnern mich Facebook-Einladungen, WhatsApp-Gruppen, Flyer.
In Werder gibt es das Blütenfest. Punkt. Wir verpassen nichts in der Nähe. Ralfs Weinstand ist Hauptbestandteil unserer Realität.
Hier gibt es kein W-Lan und nur schlechtes Netz. Statt am Smartphone zu hängen, steht Angeln auf dem Plan.
Die ruhige Ausstrahlung der Landbevölkerung würde mich in Berlin zur Weißglut treiben. Hier gibt es nichts Schöneres, als mit dem Nachbarn bei drei Bier minutenlang zu schweigen, um dann über Nichtssagendes zu schwafeln.
Nach einem Wochenende in Werder oder an der mecklenburgischen Seenplatte hat man Sonnenbrand und leichten Kater.
Solche Kurtrips sind perfekt, um Kräfte für Berlin-Highlights wie "Fete de la Musique" und den "Karneval der Kulturen" zu sammeln.
Hier versuchen wir wieder super gestresst, Handynetz zu kriegen, um uns mit Freunden zu treffen, ja, nichts zu verpassen. Wie viel wir geschlafen haben, wissen wir nicht, es wird uns egal sein. Wir sind ja noch ausgeruht vom letzten Trip auf Land.
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