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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Guter Stoff

Der Drogenbeauftragte von Jena soll ein Dealer gewesen sein.
aus DER SPIEGEL 3/2006

Ralph Wiechmann sagt, er habe schon immer gern geholfen. Als Schüler holte er für die Nachbarin im Dorf sonnabends Brötchen, mit 17 Jahren brachte er seinen Freund davon ab, sich umzubringen.

Mit 20 fuhr er in einem Zug raus aus Brandenburg und wurde Diplom-Sozialpädagoge in Suhl, machte zwei Aufbaustudiengänge und eröffnete mit 34 die erste Drogenberatungsstelle Thüringens in Jena. Heute sagt Ralph Wiechmann, 41 Jahre alt, die »Schmuddelpädagogik« habe ihn schon immer angezogen, magisch irgendwie, die Straße und die Abhängigen.

Einen der Abhängigen, einen besonders schweren Fall, setzte Ralph Wiechmann vor drei Jahren in sein Auto und fuhr mit ihm nach Rumänien, in die Nordkarpaten, sagt Wiechmann. In der Tasche trug er Tabletten, die Hausärztin hatte sie aufgeschrieben für die Momente, in denen im Jungen erst das Zittern aufsteigt und dann die Angst. Sie wohnten gemeinsam in einer Wohnung, rund um die Uhr. Als Wiechmann nach einem halben Jahr mit ihm zurückfuhr, weil sie es geschafft hatten, waren 150 Tabletten übrig, »Diazepam«, er ist stolz darauf. Je weniger Medikamente der Junge brauchte, desto besser war Wiechmanns Arbeit.

So eine Tour ist keine Selbstverständlichkeit, auch für Wiechmann nicht, der gern hilft. Er ist groß und schlank und dunkelhaarig, verheiratet, er hat zwei Töchter. »Bei Personen, die mir wichtig sind«, sagt er, »hänge ich mich rein.«

Als Wiechmann zurück in Jena war, machten sie ihn zum Drogenbeauftragten der Stadt. Er fing an, durch das halbe Land zu reisen, Seminare zu geben an Schulen und Universitäten, er war gefragt, er half Polizisten und beriet Politiker, er hatte ein Büro, Zimmer 03 im Gesundheitsamt, ein schönes Büro, geräumig, aber darin standen nur Bücher, und der Blick hinaus endete im Hinterhof. An den Wänden hingen Fotos, aus Rumänien, Nordkarpaten, aus alten Zeiten, von der Straße.

»Um meine neuen Aufgaben erfüllen zu können, musste ich das Milieu kennen«, sagt Wiechmann. Das lag draußen. Er hätte drinnen bleiben können, dozieren, Berichte schreiben, koordinieren, mittagessen.

Er machte beides. Drinnen und draußen.

Auf dem Parkplatz vor McDonald's, sagt Wiechmann, gab ihm die Mutter eines Süchtigen eines Nachts eine Aldi-Tüte, randvoll mit Drogen, sie schämte sich zu sehr, die Tüte selbst in die Apotheke zu bringen. Wiechmann übernahm es. Vorher brachte er alles nach Hause, um es für die Unterlagen zu fotografieren, zu beschriften und zu katalogisieren. Für das nächste Seminar nahm er zwei Gramm Haschisch und eine Ecstasy-Tablette aus der Tüte und verschloss sie in der Stahlkassette seines Schreibtisches.

Ralph Wiechmann sitzt auf dem Sofa eines Rechtsanwalts, während er seine Geschichte erzählt. Sie klingt plausibel, es ist die Geschichte eines guten Menschen. Vielleicht ist es die Geschichte eines zu guten Menschen.

Es war ein Dienstag, als sie bei ihm klingelten, zehn Polizisten und ein Spürhund standen unten vor dem Mehrfamilienhaus, es lag Rauhreif auf den Dächern, und Wiechmann war dabei, sich anzuziehen, seine jüngste Tochter war früh wach geworden. Er fragte, worum es gehe, er fühlte sich frei von Schuld, er zeigte ihnen alles, sie nahmen alles mit. 150 Tabletten »Diazepam«, zwei Gramm Haschisch, eine Ecstasy-Tablette und den Drogenbeauftragten. Am Nachmittag wurde er suspendiert.

Die Stadt hält ihn für einen Dealer, einen Lügner, der gute Geschichten erzählen kann.

In der Stadtverwaltung von Jena, sanierter Altbau, roter Teppich, gelbe Wände, sitzt ein Mann, der Strickjacke trägt, dazu Schlips, er lächelt traurig, großväterlich, er will zeigen, dass er für Gerechtigkeit ist.

Peter Röhlinger ist 66, und wenn er im Sommer pensioniert wird, wird er als Oberbürgermeister der Stadt Jena 16 Jahre lang um Vertrauen gekämpft haben, so lange, wie Wiechmann gegen Drogen kämpfte.

Der Oberbürgermeister glaubt Wiechmanns Geschichten nicht, seine Sicht ist näherliegend, gewöhnlicher. Rumänien, Karpaten, Aldi-Tüte, McDonald's sind da nur Stoff für einen Roman. Wiechmanns Arbeitsplatz war das Amt, sagt der Oberbürgermeister.

Er rührt stumm in seinem Pfefferminztee, und wenn er aufblickt, soll man ihn ansehen, nicken und auch traurig lächeln.

Der Oberbürgermeister atmet schwer, dann erzählt er eine andere Geschichte über Ralph Wiechmann. Sie handelt von einer Frau, die hübsch ist, 22 Jahre alt und von der Straße kam. Sie hat für die Stadt gearbeitet, jetzt sitzt sie in Untersuchungshaft. Sie war drogenabhängig und soll mit Drogen gehandelt haben, als Praktikantin, im Gesundheitsamt, in der Abteilung von Herrn Wiechmann.

Der Oberbürgermeister sagt, Wiechmann habe diese Frau eingeschleust, weil er sie geliebt habe. Jetzt wird ihm Beihilfe zum Drogenhandel vorgeworfen.

»Er hat kein Schuldbewusstsein«, sagt der Oberbürgermeister und lächelt noch einmal traurig. Für ihn ist es das Ende einer Geschichte, die verlogen ist, schmutzig.

Ralph Wiechmann hat die Frau im Sommer auf einem Seminar kennen gelernt. Da stand sie plötzlich vor ihm, hübsch, 22, von der Straße. Sie war ihm wichtig, sie brauchte Hilfe. Er hat geholfen, wie immer. Sagt er.

BARBARA HARDINGHAUS

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