Häuserkampf
Zahlen sickern in den Saal 618. Eine Million, drei Millionen, vier Millionen. Es geht um einen Konkurs. Und es geht um Mietkautionen, die veruntreut wurden. Der Zeuge Klaus S., damals angestellt bei einer Bank, die dem Angeklagten Kredite gab, versucht sich zu erinnern. Es bleibt ein Versuch.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagt er oft. Oder: »Das kann ich nicht mehr aus der Erinnerung hervorrufen.«
Der Vorsitzende Richter fragt nach dem Jahr 1996. Nach der finanziellen Lage der Firmen des Angeklagten Gustav Sommer. Aber was war 1996? Vor zehn Jahren?
Damals gab es die Mark, Helmut Kohl war Kanzler, Lady Di lebte, und Osama Bin Laden war in Deutschland fast unbekannt. Ein anderes Jahrtausend. Eine andere Welt. Der Zeuge Klaus S. schwitzt.
Der Angeklagte Gustav Sommer schaut träge auf den Zeugen. Neben Sommer sitzt seine Ehefrau, gegenüber einer seiner Söhne. Sie sind auch angeklagt. Ein Familienprozess. Der Staat gegen die Sommers.
Gustav Sommer ist 61 Jahre alt, Immobilienkaufmann und eine Art Feindbild für Mieter und Wohneigentümer, seit ewigen Zeiten schon. Es gab immer wieder Ärger um überteuerte Sanierungskosten und Wohngelder, nicht beheizte Häuser im Winter und Mietkautionen, die er nicht zurückgezahlt habe. Er sei ein Immobilienhai, ein Kaputtsanierer, ein Abzocker, ein Klagewütiger, er sei Berlins schlimmster Vermieter - all das wurde über Gustav Sommer geschrieben und gesagt.
Ihm wird jetzt Insolvenzverschleppung vorgeworfen. Zudem soll er zwischen 1994 und 1997 Kautionszahlungen von Mietern veruntreut haben. Das Geld gelangte nicht auf Kautionskonten, sondern auf Sommers Firmenkonten. Rund zweihundert Fälle. Sommers Anwalt bestreitet die Vorwürfe. Bei der Verrechnung von Sommers Forderungen mit den Kautionen sei kaum etwas übrig geblieben.
Gustav Sommer droht Freiheitsstrafe. Aber er sieht nicht beunruhigt aus. Es ist alles so lange her. Die Zeit verwischt die Dinge, macht sie unscharf und unjustitiabel, die Zeit kann das ganze schöne deutsche Rechtssystem betäuben, mit all seinen Instanzen und Verfahrensvorschriften. Die Zeit arbeitet für Gustav Sommer. Das tat sie oft in den letzten Jahren.
Der Zeuge Klaus S. kämpft noch ein bisschen. Es geht um die Insolvenz. »Wie haben sie denn die Zahlungsschwäche des Angeklagten geprüft?«, fragt einer der beisitzenden Richter.
»Na ja, wir haben kein Geld mehr bekommen«, sagt Herr S.
»Aha«, sagt der Richter. »Also die normative Kraft des Faktischen.«
Klaus S. wird als Zeuge entlassen. Kurze Pause, sagt der Vorsitzende.
Gustav Sommer steht auf dem Gerichtsflur und raucht gelassen. Ein graugesichtiger Mann in T-Shirt, heller Jeans und schwarzen Men-Slippers mit Bommeln auf dem Spann. Er war mal reich, was er jetzt ist, ist schwer zu sagen. Sommer gehörten rund 500 Häuser, Grundstücke und Wohnungen in Berlin und der Altstadt von Stralsund. 1997 ging er mit vielen seiner Firmen Pleite. Der schlechte Ruf ist geblieben.
Wahrscheinlich ist es schwer, jemanden zu finden, der in seinem Leben öfter geklagt hat und verklagt wurde als Gustav Sommer. Es gibt nur noch Schätzungen über die Zivilprozesse, die er führte. Manche erreichen die Tausend.
Die Verhandlung geht weiter. Papierstapel werden den Beteiligten überreicht. Dicke Stapel mit Pfändungsbeschlüssen, Vollstreckungsankündigungen und Kontoauszügen. Wer will das alles lesen und bewerten? Immer mehr Stapel werden weitergereicht. Überweisungsaufträge, Kontonummern, Mahnungen. Die Gesichter der beiden Schöffen sind in Langeweile erstarrt. »Na ja, kurze Pause vielleicht«, sagt der Vorsitzende Richter.
Wohin die veruntreuten Kautionsgelder am Ende flossen, weiß der Staatsanwalt nicht. Die Zeit verwischt die Spuren. Und Zeit ist auch kostbar. Am Kriminalgericht in Moabit, dieser riesigen Verfahrensmaschine, bräuchten sie mehr davon. Eine Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Sommer lag bereits seit April 2003 vor. Aber die Strafkammer war überlastet. Es gab drei Jahre Stau. Drei Jahre, die wieder irgendwo versickerten.
Man hat Gustav Sommer nie zu fassen bekommen, nie richtig. Im Dezember 2000 sah es plötzlich nach Gefängnis aus, das Amtsgericht Stralsund verurteilte ihn wegen gewerbsmäßigen Betrugs zu 18 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Sommer legte Berufung ein. Über fünf Jahre vergingen. Ein halbes Jahrzehnt. Am Ende blieb eine Geldstrafe.
Vielleicht funktioniert der Rechtsstaat wie ein Klo. Man kann ihn verstopfen mit Zeit und Papier. Irgendwann funktioniert dann die Spülung nicht mehr.
Die Zeugin P. kommt. Setzt sich auf den dunkelgrün gepolsterten Stuhl, auf dem zuvor der Zeuge Klaus S. saß.
Die Zeugin P. ist eine ehemalige Angestellte von Gustav Sommer. Der Vorsitzende Richter fragt nach den Mietkautionskonten von Sommer.
»Ich glaube, es gab da ein Kautionskonto«, sagt Frau P. tapfer. Aber glauben ist immer schlecht als Zeugin. Glauben ist weniger als wissen.
Der Vorsitzende Richter fragt, ob die Mietkautionen denn dort bis zum Auszug der Mieter verblieben.
»Das weiß ich nicht mehr«, antwortet Frau P.
Dann darf sie gehen. Es ist 15 Uhr. Alle gehen jetzt. Übermorgen wird wieder verhandelt. Und dann nächste Woche. Und immer weiter. Gustav Sommer schlendert langsam aus dem Saal, steckt sich eine Zigarette an und läuft den Gang hinunter.
»Time Is on My Side«, heißt ein Lied der Rolling Stones. Es könnte Sommers Soundtrack sein. JOCHEN-MARTIN GUTSCH