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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Hallo, Nachbar

Wie eine Frau aus Wesseling zum Global Player wurde
Von Ralf Hoppe
aus DER SPIEGEL 35/2006

Alles Gute, mein Mausebär, so gratuliert ihm seine Frau, auch die Kinder krähen ihre Glückwünsche, Blumen stehen auf dem Tisch, die Kaffeemaschine blubbert, es ist der 20. Oktober 2005, halb sieben Uhr morgens: der 41. Geburtstag von Martin Klütsch, gelernter Jalousiebauer, verheiratet mit Claudia Klütsch, vier Kinder, Doppelhaushälfte in der Josef-Zimmermann-Straße in Wesseling bei Köln.

Auf dem Frühstückstisch die Geschenke: zwei CDs von Bryan Adams; Fabian, Stephanie und Judith haben die obligatorischen Bilder gemalt. Christina, mit 17 die Älteste, schenkt ihrem Vater zwei Hemden: City-Hemden der Marke »Youkon«, gekauft tags zuvor bei der Metro in Köln-Godorf, hellblau mit Streifen, Größe XXL.

Für heut Abend, sagt seine Frau, mach ich uns Schnitzel.

Drei Tage später, am Sonntagvormittag, steht Claudia Klütsch im Schlafzimmer und zieht die Hemden aus der Folie. Etwas rutscht aus dem Kragen. Eine Garantie? Eine Waschanleitung?

Es ist ein grauer Pappstreifen, drei Zentimeter breit, eng beschrieben.

Mein Gott! Martin, komm schnell!

Etwa zur selben Zeit, aber 7500 Kilometer entfernt, an der Teajgoang Road in Dhaka, Bangladesch, macht Gazi Shahariyar seine Mittagspause. Er arbeitet auch sonntags, arbeitet als Vorarbeiter in der Verpackungsabteilung einer Textilfabrik. Und wie jeden Tag verlässt er gegen Mittag für eine halbe Stunde die Halle, lässt sich draußen in den Schatten sinken und packt sein - in Zeitung gewickeltes - Mittagessen aus. Während er mit den Fingern kleine Reisbällchen formt und sie in den Mund schiebt, denkt er an seine Botschaft, seine Hoffnung, an den Zettel.

In Wesseling sitzen die Klütschs auf ihrer Bettkante und entziffern die englischen Wörter: Brauche Geld zum Leben. Lege mein Schicksal in deine Hände. Auf der Rückseite eine Adresse.

Wo genau liegt Bangladesch?, fragt Claudia Klütsch. Irgendwo bei Indien, antwortet ihr Mann, jetzt schmeiß aber den Zettel weg, vergiss die Sache.

Auf keinen Fall, sagt sie.

In dieser Nacht findet Claudia Klütsch kaum Schlaf. Am Abend hat sie das Internet durchforstet: Bangladesch, weiß sie jetzt, ein Land der Wirbelstürme und Überschwemmungen, Korruption, Bevölkerungsexplosion, Slums.

Claudia Klütsch liegt im Bett, sie wälzt sich, grübelt.

Am nächsten Morgen ruft sie in der Redaktion des Kölner »Express« an. Sie erreicht den Journalisten Thomas Rauffmann; der verspricht, nachzuforschen. Das Hemd mit der Internationalen Artikelnummer 4893913412000, erfährt Rauffmann, wurde tatsächlich in Dhaka genäht. Genug für eine Meldung.

Claudia Klütsch ringt sich durch. Sie steckt 30 Dollar in einen Umschlag, und sie setzt, nach langem Zögern, auch ihren Absender dazu.

Rund 75 Prozent der Exporte aus Bangladesch sind Textilien. Zwei Millionen Arbeiter, vor allem Frauen, schuften in etwa 3000 Fabriken, oft zu absurden Stundenlöhnen um die zehn Cent, das Land ein einziger Sweat-Shop, halbverhungert näht man für die Boutiquen einer fremden Welt.

Gazi Shahariyar stammt aus dem Dorf Solakura: Sie sind eine Familie ohne Land, ohne Vieh, sieben Geschwister, der Vater krank. Mit 18 kam Shahariyar nach Dhaka. Er fand einen Job, wurde Vorarbeiter; von seinem Monatslohn, 4700 Taka, knapp 55 Euro, zahlt er 2300 Taka für ein Zimmer in der Nähe der Fabrik. 1500 Taka schickt er an seinen Vater, seine Frau. Er kann sich zwei Reisgerichte am Tag leisten, manchmal Gemüse. Zweimal im Monat Fisch. Er hat vier Hemden, zwei Hosen, keine Uhr, kein Fahrrad. Aber irgendwie hat Gazi Shahariyar von Deutschland gehört. Es muss wundervoll sein dort. Alle spielen Fußball, alle sind reich, und jeden Tag essen sie Fleisch.

So versteckt er eines Tages einen Zettel in einem Hemd. Er riskiert seinen Job damit, das weiß er. Aber das Stück Pappe ist seine ganze Hoffnung.

Als die Antwort eintrifft, ist das für Gazi Shahariyar eine Offenbarung. In den kommenden Wochen schreibt er drei Briefe, in denen er in wirrem, flehendem Englisch um mehr Geld bittet. Claudia Klütsch ist von der Dringlichkeit und vom Tonfall überfordert. Kann sie dem trauen? Vergiss die Sache, sagt ihr Mann.

Ich muss nachdenken, antwortet sie.

Nach sechs Monaten erfährt Claudia Klütsch, durch Recherchen des SPIEGEL, dass Gazi Shahariyars jedenfalls nicht gelogen hat. Und sie ist die Einzige, die ihm helfen kann. Und nun?

Für Claudia Kütsch ist die Geschichte eine persönliche Lektion. Die Welt ist ein Dorf geworden, jeder ein kleiner Global Player, und in diesem Dorf gehört sie zu den Reichen. Und Reichtum und Mitgefühl sind schwer zu vereinen. Sie will ihm ja helfen, diesem Gazi, doch sie weiß auch, es wird nie genug sein. Du kaufst ein Hemd, sagt sie, und hast plötzlich ein Leben in der Hand.

Der arme Kerl. Andererseits, Klütschs haben selbst vier Kinder, sie kommen gerade mal zurecht. Und wenn Gazi eines Tages vor der Tür steht?

Eines Morgens jedoch wacht Claudia Klütsch auf und hat eine Idee: Sie wird die 30 Euro, die sie bisher monatlich dem Roten Kreuz spenden, von nun an nach Dhaka schicken, an Gazi, ihren neuen Nachbarn. RALF HOPPE

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