
Schädel in Hamburger Uniklinik Leichenteile im Keller


Wilhelm Weygandts Inventarbuch
Foto: SPIEGEL ONLINEEin Klick, schon glotzen sie ihn an. Philipp Osten blickt in die Augenhöhlen zehn elfenbeinweißer Schädel, säuberlich aneinandergereiht auf robusten Holzregalen. Ein Klick, jetzt liegen ein paar Gebisse vor dem Medizinhistoriker. Ein Klick, kariöse Backenzähne, ein Klick, Kieferknochen, klickklickklickklick.
Die morbide Sammlung hat Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Hamburger Universitätsklinikum, in Form Dutzender Fotos auf seinem Computer gespeichert. Die Originalstücke liegen in 90 Umzugskartons im Tiefkeller unter seinem Institut, zeigen will er sie nicht.
Osten leitet seit anderthalb Jahren das Medizinhistorische Museum. In diese Zeit fielen einige jener Funde, die nun eine heikle Debatte befeuern: Was soll mit den sterblichen Überresten von Unbekannten geschehen, die nach Jahrzehnten auftauchen, sogenannten Human Remains?
Besonders gruselige Präparate
Diese Frage quält die Leiter von Archiven in Unikliniken, Sammlungen und Museen. Wann dient ein Leichenteil der Wissenschaft? Wann der Fortbildung der Besucher? Wann ist eine Darstellung moralisch verwerflich? Oder müsste nicht aus Pietätgründen alles würdig bestattet werden, wenn der Körper nicht zu Lebzeiten der Wissenschaft überschrieben wurde?
Viele Institute gehen der Antwort offensichtlich aus dem Weg. Nach einem SPIEGEL-Bericht über Humanpräparate von Euthanasieopfern im Keller des Münchner Max-Planck-Institutes für Psychiatrie meldeten sich Mitarbeiter aus mehreren deutschen Medizinarchiven und verwiesen auf die Exemplare, die dort teilweise seit mehr als 100 Jahren in den Kellerregalen oder in schweren Kisten lagern.
Am Institut für Anatomie der Uni Leipzig etwa entstand 2002 ein Foto von sechs "Mohrenköpfen", wie sie intern genannt wurden. Die Aufnahme gelangte erst jetzt an die Öffentlichkeit. Es handelt sich um Präparate der Sammlung Carl Gustav Carus, die Uni besitzt sie seit 1869, inzwischen lagern sie in einem Depot.
Es handele sich um "hyperrealistische Kopfplastiken" aus Gips, erklärte die Universität. Aber die Präparate entstanden auf besonders gruselige Art: Den Toten wurde die Haut abgezogen, Haut und Haare klebte man danach auf die Gipsköpfe und setzte Glasaugen ein. Ein damals gängiges Verfahren. Es diente, so die Uni Leipzig, der Schädelvermessung, um auf Persönlichkeitsmerkmale zu schließen. Eine Bestattung hält man in Leipzig dennoch nicht für notwendig, schließlich handle es sich lediglich um Plastiken aus Gips.
In Hamburg ringt Osten um den richtigen Umgang mit den Human Remains. Der Zahnarzt und Universitätsprofessor Heinrich Fabian, Jahrgang 1884, hatte über Jahrzehnte eine gigantische Sammlung sterblicher Überreste angelegt. Eine 2011 begonnene Katalogisierung blieb Stückwerk: "Heute ist die Sammlung etwa zu einem Viertel inventarisiert", sagt Osten, erfasst seien unter anderem 49 menschliche Schädel. Drei Viertel der Humain Remains sind jedoch nicht einmal registriert, geschweige denn Einzelschicksalen zugeordnet.
Für solche Fälle gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: bestatten oder erforschen. Untersuchungen könnten zutage fördern, welche Lebensgeschichte sich hinter einem Totenkopf verbirgt. Dafür müsste jedoch der Anspruch der Verstorbenen auf eine würdige Beisetzung zurückstehen.
"Ich will diese Schädel nicht ausstellen und auch sonst nicht öffentlich zeigen", sagt Osten, er hielte das für ethisch völlig unzeitgemäß. Also einfach bestatten? Osten schüttelt den Kopf. In den Achtziger- und Neunzigerjahren sei das häufig die Konsequenz gewesen, er spricht von "Bereinigung" und hält es für einen groben Fehler. "Damit war man das Problem los und hatte keinen Dreck mehr am Stecken."
Im Video: Institutschef Osten über die Fabian-Sammlung
Osten plädiert dafür, zumindest alle Skelettteile ausführlich zu dokumentieren: "Was, wenn sich noch ganz neue Erkenntnisse ergeben?" Die im Institutskeller lagernden Schädel stammten wohl unter anderem von Obdachlosen und Psychiatriepatienten aus dem 19. und 20. Jahrhundert, einige Exemplare seien aber deutlich älter und eigens exhumiert worden.
Demnächst steht ein erstes Treffen mit Kollegen und Experten an, dann soll es zunächst um die wichtigsten Fragen gehen: Sind in der Sammlung womöglich Skelettteile von Opfern der NS-Diktatur oder deutscher Kolonialherrschaft? Welche Rolle spielen Persönlichkeitsrechte oder der Denkmalschutz? Könnte es Angehörige oder Nachfahren geben? "Dem nachzugehen kann sicher drei Jahre dauern", sagt Osten. "Aber dann ist das eben so."
Mitte April stellten Osten und sein Team auf einer Pressekonferenz ein Inventarbuch vor. Es gehört zu einer weiteren Sammlung menschlicher Überreste, die einst dem Psychiater Wilhelm Weygandt gehörte. Der hatte zwischen 1905 und 1934 insgesamt 1185 sterbliche Überreste von Menschen und Tieren zusammengerafft - darunter laut Inventarbuch auch Stücke aus deutschen Kolonien in Asien und Afrika: "Chinesen-Schädel", "Papua-Schädel", "Herero-Schädel" .
Wilhelm Weygandts Inventarbuch
Foto: SPIEGEL ONLINEFür das Volk der Herero, das deutsche Kolonialtruppen 1904 beinahe ausgerottet hätten, interessierte Weygandt sich offenkundig aus einem speziellen Grund: Er war ein energischer Befürworter der sogenannten Rassenhygiene, seine Präparate sollten die pseudomedizinische Theorie untermauern.
"Wir haben hier ein Problem", entfährt es Osten, "das ist nicht mit einer Meinungsumfrage gemacht". Sollte auch die Fabian-Sammlung mit historischen Gräueltaten in Zusammenhang stehen, müsse dem nachgegangen werden.
Osten möchte daher bis zum Herbst ein Konzept für den Umgang mit den Human Remains im Keller seines Instituts vorlegen. Auch schwierige Funde, die womöglich für Negativschlagzeilen sorgen, will er untersuchen lassen. "Wir nehmen auch die problematischen Teile an, sonst gehen die ja irgendwann verschütt."
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Das Medizinhistorische Museum in Hamburg: Im Keller des Instituts lagern unter anderem Dutzende menschliche Schädel und weitere Knochenteile, die einst der Zahnarzt und Universitätsprofessor Heinrich Fabian gesammelt hatte.
Fabian hatte unter anderem ein Faible für vergleichende Zoologie, dafür hortete er Hunderte Schädel verschiedener Tierarten. Dieser Thunfischkopf ist in dem Museum ausgestellt.
Philipp Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Hamburger Universitätsklinikum, will solche Funde untersuchen lassen - eine heikle Angelegenheit.
Vor Kurzem hatte Osten dieses Inventarbuch der Öffentlichkeit präsentiert. Es beinhaltet die Auflistung einer Sammlung des Psychiaters Wilhelm Weygandt, der zwischen 1905 und 1934 fast 1200 sterbliche Überreste von Menschen und Tieren angehäuft hatte.
Zu der Sammlung gehörten laut Inventarbuch auch Schädel von verstorbenen Herero. Die deutschen Kolonialtruppen hatten dieses westafrikanische Volk Anfang des 20. Jahrhunderts nahezu ausgerottet.
Einige dieser auch politisch heiklen Fundstücke lagern nun in Hamburg. Medizinhistoriker Osten zufolge soll etwa der "Herero-Schädel" ins heutige Namibia zurückgebracht werden.
Ostens Job ist nicht ganz einfach: Bei jedem Fund sterblicher Überreste ist zu entscheiden, wie lange und intensiv die sogenannten Human Remains untersucht werden, bevor sie bestattet werden.
Im Fall von sterblichen Überresten eines Herero etwa mag es kaum noch direkte Angehörige geben - aber bei Knochen von Psychiatriepatienten oder Obdachlosen aus Deutschland könnte das durchaus der Fall sein.