"Ich war froh, als er begraben wurde. Ich wollte, dass seine Leiche nicht mehr herumgereicht wird"

Saida, Said Etris und Mir Salam Hashemi über ihren Bruder und Sohn Said Nesar, der ihnen bei dem Anschlag in Hanau genommen wurde.
Foto: Benjamin Eckert

Dieser Beitrag wurde am 23.08.2020 auf bento.de veröffentlicht.

Am 4. März 2020, genau zwei Wochen nach dem Tod ihres Bruders Said Nesar Hashemi, sprach Saida Hashemi auf der Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags vom 19. Februar. Zuerst mit zittriger Stimme, dann formuliert sie die Worte auf der Bühne immer bestimmter. Sie wirkt stark, obwohl sie verletzt ist. Heute auch.

Zu unserem Gespräch in Hanau kommt Saida zusammen mit ihrem Vater, Mir Salam Hashemi, einem sanften, großen Mann. Wenn er weint, erkennt man es nur daran, dass er sich die Tränen aus den Augenwinkeln streicht. Er gibt keinen Laut von sich. Wenn er spricht, dann mit leiser Stimme. 

Die Hashemis haben Fragen. Sie möchten Antworten, sie möchten Veränderung. Und sie vermissen ihren Bruder, ihren Sohn.

Saying Their Names: Die Angehörigen sprechen über die Opfer des Hanauer Anschlags

Am 19. Februar 2020 erschoss ein rechtsextremistischer Attentäter neun ihm unbekannte Menschen, tötete anschließend seine Mutter und beging dann Suizid. 

Ein halbes Jahr später haben wir mit den Angehörigen der Ermordeten gesprochen – um an die Verstorbenen und ihre Familien zu erinnern. Und auch, um die Familien zu fragen, ob es etwas gibt, das Deutschland ihrer Meinung nach im Umgang mit Rassismus begreifen muss. Mit allen Angehörigen haben wir je etwa zwei Stunden gesprochen und das Gesagte in Protokollen verdichtet. Diese wurden von den Angehörigen gegengelesen und autorisiert. 

Vom 19. August 2020 an, genau ein halbes Jahr nach dem Anschlag, werden wir jeden Tag eines der Protokolle veröffentlichen – in der Reihenfolge, in der wir die Gespräche geführt haben. 

Einen Überblick aller bisher erschienenen Texte findest du hier.

Saida: "Seine Freunde kannten ihn entweder als Said oder als Nesar. Für uns war er Nesar. Nesar wurde am 9.6.1998 in Hanau geboren. Er ist hier aufgewachsen, er ist hier gestorben, direkt am Tatort. Er wurde am 19.2. ermordet."

Saida atmet lange aus, nachdem sie die Fakten zu dem kurzen Leben ihres Bruders genannt hat. 

Saida: "Nesar war ein wundervoller Mensch. Er war der Spaßvogel in der Familie. Ich vermisse ihn wirklich sehr. Es wird von Tag zu Tag schwerer.

Wir waren fünf Geschwister. Ich bin die älteste. Dann kommt Said Etris. Dann Said Nesar. Und die zwei Kleinen sind 14 und elf Jahre alt."

Foto: Benjamin Eckert

Saida: "Der Kleinste realisiert noch nicht, was passiert ist. Der 14-Jährige leidet sehr. Er sagt: 'Nesar hat mir immer zugehört. Jetzt ist er nicht mehr da und niemand hört mir mehr zu.'"

Kurz nach Beginn des Gesprächs kommt auch Said Etris Hashemi dazu. Etris war in der Arena Bar, als sein Bruder starb. Über den Abend des 19.2. möchte er nicht viele Worte verlieren. Aber er hat etwas zu seinem Bruder zu sagen. Und dazu, was sich ändern muss. 

Etris: "Der 14-Jährige hat uns ältere Geschwister immer gebeten, ihm Erweiterungen für seine Playstation zu kaufen, Kostüme für Fortnite, solche Dinge. Saida und ich haben meistens strikt 'Nein' gesagt. Nesar war der, der ja gesagt hat."

Said Nesar Hashemi

Said Nesar Hashemi war Teil einer großen Familie. Er hatte zwei große und zwei kleine Geschwister. Nesar hat im gleichen Betrieb eine Ausbildung gemacht, in dem sein Vater gearbeitet hat. "Kleiner Hashemi" wurde er dort genannt. Nächtes Jahr hätte er seine Fortbildung zum Techniker abgeschlossen. Er wollte in der Qualitätssicherung arbeiten. Noch heute besuchen ihn täglich Freunde und Kollegen an seinem Grab. Nach der Arbeit sitzen sie dort bei Nesar und unterhalten sich. "So, als wären sie immer noch alle zusammen", erzählt Saida. 

Saida: "Nesar war sehr fleißig. Weil ich Mathematik studiere, hat er mich manchmal um Rat gefragt. Ein paar Tage vor der Tat wollte er, dass ich ihm die linearen Gleichungssysteme erkläre. Er hätte in seiner Weiterbildung bald eine Klausur geschrieben.

Er hat immer gesagt, wie stolz er auf mich ist: 'Ich kann meinen Freunden sagen, dass meine Schwester Lehrerin wird.' Er hat immer die passenden Worte gefunden"

Mir Salam: "Nesar war kein Mensch, der gestritten hat. Nesar hat versöhnt. Ein Freund von ihm hatte einmal Streit mit einem anderen Freund. Nesar hat ihn dann zu diesem Freund gefahren, damit sie sich wieder vertragen. 'Nochmal will ich so etwas nicht sehen', hat er ihnen gesagt."

Die Familie Hashemi lacht und freut sich, wenn sie sich zusammen an Nesar erinnern, an seine Eigenheiten, an den Menschen, der er war. 

Mir Salam: "Wir haben Bänke an sein Grab gestellt, damit die Menschen, die ihn besuchen, sich hinsetzen können. Es kommen sehr viele Menschen. Wir sind nie alleine mit ihm."

Foto: Benjamin Eckert

Saida: "Nesar ist mit einem Lächeln von uns gegangen. Etris hat alles gesehen. Nesar lag neben ihm und hat ihn angelächelt. Er hat sein Lächeln nie verloren."

Etris wurde in der Tatnacht mehrmals angeschossen, eine Kugel traf ihn am Hals. Er blieb dennoch bei Bewusstsein und versuchte, anderen zu helfen, bis die Rettungskräfte eintrafen. Die erste Zeit im Krankenhaus konnte er mit seiner Familie nur über schriftliche Botschaften kommunizieren, weil er über einen Schlauch beatmet wurde. "Ihr braucht euch keine Sorgen machen, es wird alles gut," schrieb er ihnen. 

Etris: "Am 19. Februar lief Champions League. Juventus hat gespielt, alle waren da. Ich habe an dem Tag gearbeitet, Nesar hatte Schule. 

Nachdem ich angeschossen wurde, bin ich aufgestanden und zu meinem Bruder gegangen. Er war schon tot. Ich bin dann zu der nächsten Person gelaufen und habe versucht, zu helfen."

Saida: "Als es passiert ist, habe ich schon geschlafen. Ich bin an dem Abend früh ins Bett gegangen. Irgendwann hat mich meine Mutter geweckt und gesagt: 'Saida, draußen wurde geschossen und deine Brüder sind nicht zuhause.' Dann ist sie einfach raus gegangen. Es war Februar, sie hat sich nicht mal eine Jacke angezogen. Ich bin ihr hinterher."

Gegen sechs Uhr morgens erfuhr die Familie, dass Said Nesar unter den neun Todesopfern war. Etris war zu diesem Zeitpunkt schon im Krankenhaus, wo er mehr als zwei Wochen blieb. In dieser Zeit verließ er das Krankenhaus nur einmal, für Nesars Beerdigung. 

Foto: Benjamin Eckert

Saida: "Wir durften uns von Nesar verabschieden, einen Tag, bevor er beerdigt wurde. Er lag in einem offenen Sarg in einem kleinen Raum auf dem Friedhof. Er sah aus, als würde er schlafen.

Ich war froh, ihn nochmal gesehen zu haben. Nach seinem Tod wurde die Leiche beschlagnahmt. Er war einfach nicht mehr da, wir wussten nicht, wo er ist. Niemand konnte uns das sagen. Ich habe ihn erst acht Tage nach seinem Tod wiedergesehen."

Etris: "Sie haben die Leiche beschlagnahmt, als ob sie ein Gegenstand wäre. Wie ein Handy. Sie haben die Obduktion gemacht, ohne mit uns darüber zu sprechen."

Mir Salam: "Ich habe viele Tote gesehen. Ich bin im Krieg aufgewachsen. Als sie den Leichensack geöffnet haben, lag ein Tuch auf seinem Hals. Ich habe sofort gesehen, dass sie ihn aufgeschnitten haben."

Saida: "Ich war froh als er begraben wurde. Ich wollte, dass seine Leiche nicht mehr herumgereicht wird. Dass an ihm rumseziert wird. Er sollte Ruhe finden. 

Man hätte uns gesetzlich darüber aufklären müssen, warum die Leiche beschlagnahmt wurde. Man hat uns nichts gesagt, man hat uns keine Gründe genannt."

Etris: "Für mich ist das nicht zu entschuldigen. Hier sind Fehler passiert. Wir wollen, dass diese Fehler aufgearbeitet werden."

Foto: Benjamin Eckert

Saida: "Wir wollen wissen, was passiert ist. Niemand wacht morgens auf und beschließt, Menschen umzubringen. Niemand wird als Rassist geboren. Da muss etwas vorangegangen sein. Es gab Warnsignale. Warum gibt man so einem Menschen eine Waffe in die Hand?"

Keiner der drei nennt den Namen des Attentäters während des Gesprächs. 

Saida: "Warum hat man ihn ignoriert, bis es eskaliert ist? Das möchte ich wissen. Da müssen Dinge schief gelaufen sein. Und dafür muss jemand die Verantwortung übernehmen. Momentan tut das keiner."

Etris: "Viele Deutsche entschuldigen sich bei uns. Das ist nicht nötig. Wir sind nicht sauer auf Deutsche. In den Medien wird gerne verallgemeinert, wenn sich ein islamistischer Attentäter in die Luft sprengt, wird dem Islam die Schuld gegeben. So etwas wollen wir nicht machen. Wir haben in Deutschland viel mehr gute Erfahrungen als schlechte Erfahrungen gemacht. Kein Deutscher muss sich rechtfertigen für das, was passiert ist."

Mir Salam: "Aber diese Tat ist jetzt Teil der Geschichte von Hanau. Das soll nicht vergessen werden."

Saida: "Es wird überlegt, ob ein Denkmal für den Anschlag errichtet wird. Das fänden wir schön. Die Menschen sollen es sehen und hinterfragen, was an diesem 19. Februar in Hanau passiert ist."

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