Steinmeier bei Gedenkfeier in Hanau »Lasst nicht zu, dass die böse Tat uns spaltet!«

Der Bundespräsident hat ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag von Hanau Versäumnisse des Staates eingeräumt. Er stellte sich hinter die Forderung der Angehörigen der Opfer nach Aufklärung und rief zum Zusammenhalt gegen Rassismus auf.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Foto: Pool / Getty Images

Trauer und Wut herrschten bei der Gedenkfeier ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag mit neun Toten in Hanau. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wandte sich in seiner Rede direkt an die Hinterbliebenen und Überlebenden und räumte Versäumnisse ein: Der Staat habe »sein Versprechen von Schutz und Sicherheit und Freiheit« gegenüber den Opfern »nicht einhalten können«, sagte er. Dies bedrücke ihn zutiefst. Hinterbliebene forderten bei der Veranstaltung eine lückenlose Aufklärung von Behördenversagen.

Angesichts dessen zeigte sich der Bundespräsident besorgt über die Gefahr eines Vertrauensverlustes: »Ich weiß: Das berührt Ihr Vertrauen in diesen, in unseren, in Ihren Staat«, sagte Steinmeier. »Das darf uns nicht gleichgültig sein, denn der Staat, die Demokratie braucht Vertrauen«, sagte Steinmeier. »Wo es Fehler oder Fehleinschätzungen gab, da muss aufgeklärt werden.«

DER SPIEGEL

Steinmeier stellte sich hinter die Forderung der Angehörigen nach einer Aufklärung aller offenen Fragen. Zugleich rief er die Bürger zum Zusammenhalt gegen Hass, Rassismus und Hetze auf. »Aufklärung und Aufarbeitung stehen nicht in freiem Ermessen. Sie sind Bringschuld des Staates gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Angehörigen«, sagte der Bundespräsident.

Keineswegs seien ein Jahr nach dem Anschlag die Trauer gewichen, der Schmerz geringer geworden, die Wut verflogen, alle Fragen beantwortet. »Doch als Bundespräsident stehe ich hier und bitte uns: Lasst nicht zu, dass die böse Tat uns spaltet! Übersehen wir nicht die bösen Geister in unserer Mitte – den Hass, die Ausgrenzung, die Gleichgültigkeit. Aber lasst uns glauben an den besseren Geist unseres Landes, an unsere Kraft zum Miteinander, zum gemeinsamen Wir!«

»Wir Eltern haben schlaflose Nächte«

Nach Steinmeiers Rede wandten sich Hinterbliebene in kurzen Botschaften auf der Gedenkfeier an die Öffentlichkeit. Sie warfen den Behörden Fehler vor: Sie seien unzureichend über den Tatablauf informiert werden, der Täter hätte am Erwerb einer Waffe gehindert werden müssen, die Polizei hätte dem Täter vor der Tat auf die Spur kommen müssen.

Emiş Gürbüz, deren Sohn Sedat ermordet worden war, sagte: »Wir wollen lückenlose Aufklärung. Die Behörden sollen ihre Fehler zugeben.« Sie fügte hinzu: »Wir Eltern haben schlaflose Nächte.« Der Vater des getöteten Hamza, Armin Kurtović, verlangte in seiner Ansprache stellvertretend für alle neun betroffenen Familien, »schonungslos vorzugehen« gegen alle, die ihre Amtspflichten verletzt haben. »Es reicht nicht aus, zu sagen: Hanau darf sich nicht wiederholen.«

Am 19. Februar 2020 hatte der rechtsextreme Tobias Rathjen in zwei Bars in Hanau insgesamt neun junge Menschen getötet. Anschließend erschoss er seine Mutter und sich selbst. Die Bundesanwaltschaft attestierte dem Täter eine zutiefst rassistische Gesinnung. Zuvor hatte er Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht.

Der Täter sei von »Hass- und Vernichtungsfantasien« geleitet worden, sagte Steinmeier in seiner Rede.

Bouffier verlas die Namen der Getöteten – und hielt keine Rede

An der Gedenkfeier für den ersten Jahrestag nahmen neben Steinmeier unter anderem Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) teil. Bouffier und Kaminsky verzichteten auf Traueransprachen und verlasen stattdessen lediglich die Namen der Opfer – ihnen und ihren Hinterbliebenen sollte die Veranstaltung in erster Linie gelten. »Wir werden sie nie vergessen«, sagte Bouffier über die Ermordeten.

Flaggen wehten auf halbmast

Eröffnet wurde die Gedenkfeier mit einem Zitat von Wilhelm Grimm, das der frühere Fußballnationalstürmer und Ehrenbürger Hanaus Rudi Völler verlas: »Hass, der alle anderen Gefühle bald überflügelt, zerstört mehr als alles andere das ruhige und gedeihliche Leben eines Staates, das auf der inneren Gesinnung der Menschen beruht, nicht auf Bajonetten.« Der berühmte Märchensammler Wilhelm Grimm wurde ebenso wie sein Bruder Jacob in Hanau geboren.

Auf Anordnung des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) wehten am Freitag die Flaggen an allen öffentlichen Gebäuden und Dienststellen im Land auf halbmast, ebenso an Steinmeiers Amtssitzen in Berlin und Bonn.

Oberbürgermeister Kaminsky hatte vor der Veranstaltung eine lückenlose Aufklärung verlangt. »Es ist unsere verdammte Pflicht, alles, was dieser Staat weiß, auch den Angehörigen zu vermitteln«, sagte er im RBB. Aufklärung sei für die Angehörigen der Opfer die einzige Chance, um das Geschehen verarbeiten zu können.

Schon vor der offiziellen Gedenkveranstaltung kamen Angehörige und Hanauer Bürger auf dem Hauptfriedhof zu einer Andacht zusammen. Sie versammelten sich an einem Ensemble von Ehrengräbern, wo die Opfer Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi begraben sind. Zu dem Ensemble gehören auch Gedenksteine für die weiteren sechs Todesopfer: Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu.

bbr/dpa/AFP
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten