Heilige Geräuschspitzen
Kurz vor dem Freitagsgebet, die Gläubigen knien bereits, hat Ahmet Yazici plötzlich eine Idee. Er steht im Gebetsraum der Rendsburger Zentrumsmoschee, den Rücken zur Wand, neben ihm wartet der Muezzin, ein junger Mann in Jeans und Pullover, ein Mikrofon in der Hand. Yazici blickt auf seine Armbanduhr. »Ich kann ja mal die Zeit stoppen«, flüstert er.
Yazici ist stellvertretender Vorsitzender im Bündnis der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland e. V. Ein Islam-Funktionär, kein Geistlicher. Am Morgen ist er von Hamburg nach Rendsburg gefahren, er will zeigen, dass vom Islam keinerlei Bedrohung ausgeht.
Vor ein paar Wochen stimmte eine Mehrheit der Schweizer dafür, den Bau von Minaretten zu verbieten. Das Votum hat die ohnehin schwierige Lage für Yazici noch kompliziert. Wollen die Muslime, die nach Westeuropa kommen, in ihrer neuen Heimat wirklich heimisch werden? Oder wollen sie das fremde Land erobern?
Der Muezzin klopft ein letztes Mal gegen das Mikro, dann schließt er die Augen. »Allahu akbar«, singt er, Gott ist groß. Er dehnt die Silben, kraftvoll füllt sein Gesang den Gebetsraum: »Allahuuuuuuu akbaaaar.«
Mitte Oktober wurde die Zentrumsmoschee eröffnet, in Rendsburg, einem 30 000-Einwohner-Städtchen am Nord-Ostsee-Kanal. An der Feier nahm auch der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen teil. Er lobte den Sanftmut und die Offenheit der neuen Moschee. Den Streit erwähnte er nicht.
Gestritten wird über den Gebetsruf. Noch ertönt er nur im Gebetsraum, bald soll er vom Minarett erschallen, per Lautsprecher. Der Ruf, behaupten Kritiker, sei eine Machtdemonstration, islamistische Propaganda. Er zwinge die Bürger dazu, an einer »gottesdienstähnlichen Handlung« teilzunehmen. Zwei Werteordnungen stoßen in Rendsburg aufeinander. Es geht darum, was schwerer wiegt: die Religionsfreiheit - oder das Recht, von Religion in jeder Form verschont zu werden.
Allah ist groß. Die Frage ist, ob er auch laut sein muss.
Yazici kam 1976 nach Deutschland, er ist in Rendsburg aufgewachsen. Er war es auch, der 1998 das Grundstück kaufte, auf dem heute die Moschee steht.
Im Bauantrag war von einem öffentlichen Gebetsruf zunächst nicht die Rede. Zwar war in beiden Minaretten eine Treppe vorgesehen, aber nur zu Wartungszwecken, so lautete die Begründung.
Im September 2009, kurz vor der feierlichen Eröffnung, stellte die Islamische Gemeinde einen Antrag auf Nutzungsänderung. Fünf Gebetsrufe am Tag sollen nun genehmigt werden, nach Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, abends, vor Sonnenuntergang. Wer ein Minarett hat, will es auch benutzen.
Kurz nachdem der Antrag bekanntgeworden war, überreichte die Initiative »Kein öffentlicher Gebetsruf« knapp 800 Unterschriften an den Rendsburger Bürgermeister. Die Unterschriften drücken Unbehagen aus und Angst. Wo hört Toleranz auf, wo beginnt Gleichgültigkeit? Und: Wie soll eine Mehrheit mit einer Minderheit umgehen, der sie unterstellt, irgendwann Mehrheit werden zu wollen?
Rein baurechtlich handelt es sich bei einer Moschee mit Lautsprecher um einen »Emittenten«. Zuständig ist somit die »Technische Anlage zur Vermeidung von Lärm«, TA Lärm abgekürzt, eine Verwaltungsvorschrift zum Bundesimmissionsschutzgesetz, kurz: BImSchG.
Die TA Lärm ist die technische Antwort auf ein ästhetisches, kulturelles und politisches Problem. Sie ist, alles in allem, eine sehr deutsche Lösung.
Im Grunde, heißt es beim Bauamt, ist der Gebetsruf zu bewerten wie ein Propeller oder eine Klimaanlage. Die Moschee steht in einem Mischgebiet. Ein paar kleine Handwerksbetriebe, Geschäfte, Wohnhäuser. 60 Dezibel sind tagsüber in einem Mischgebiet erlaubt, 45 Dezibel nachts, so schreibt es die TA Lärm vor.
Die Aufgabe für das Bauamt besteht darin, die erhobenen Messdaten in eine Ganzjahresbelastung umzurechnen. 60 Dezibel gelten als Stressgrenze. Schon eine normale Unterhaltung erreicht etwa 50 Dezibel, die Bahn, die alle paar Minuten an der Moschee vorüberdonnert, kommt leicht auf 90 Dezibel. Welchen Wert der Muezzin erreicht, hängt davon ab, wie weit die Gemeinde den Lautsprecher aufdreht.
Bei dem Ruf des Muezzins handelt es sich um ein sogenanntes impulshaltiges Geschehen, um eine Geräuschspitze also. Geräuschspitzen sind schwieriger zu beurteilen als Dauerlärm, weil das Ohr sie als störender empfindet. Deshalb ist die Frage für Yazici, wie lange der Muezzin ruft. Ein längerer Ruf könnte zwar die Lärmbelastung erhöhen, gleichzeitig aber eine geringere Impulshaltigkeit bedeuten.
Man kann darüber streiten, ob es ein gutes Zeichen ist, dass in Deutschland die Diskussion über Assimilierung mit Messwerten geführt wird, mit Beurteilungspegeln und Lärmkontingenten. Vielleicht ist es aber auch beruhigend. Vielleicht steht die TA Lärm für einen kontrollierten, unschweizerischen Umgang mit dem Islam.
Vor kurzem hat die islamische Gemeinde angeboten, zunächst nur einmal in der Woche öffentlich zu rufen. Man wolle »testen, wie das ankommt«. Ein Schnupperkurs für die Anwohner.
»Allahu akbar«, singt der junge Mann in Jeans und Pullover ein letztes Mal. Mittlerweile knien rund 80 Männer auf dem Teppich und ein paar Kinder.
Yazici starrt noch immer auf seine Armbanduhr. »Drei Minuten zehn«, flüstert er. Drei Minuten und zehn Sekunden. Die Zahl hört sich an wie ein Beweis.
Fragt sich nur, wofür. HAUKE GOOS