Historiker Overy im Interview "Hitler wurde von Lenin beeinflusst"

20 Jahre nach dem Historikerstreit stellt der Brite Richard Overy neue Vergleiche zwischen Adolf Hitlers Deutschland und Josef Stalins Russland an. Mit dem SPIEGEL sprach der Historiker über die Ähnlichkeit der Extreme und sein Buch "Die Diktatoren".

SPIEGEL:

Professor Overy, die Nationalsozialisten mit Adolf Hitler an der Spitze und die Kommunisten unter Josef Stalin betrachteten einander als Todfeinde. Nach dem Angriff der Deutschen 1941 führten die beiden Diktatoren gegeneinander den wohl blutigsten Krieg in der Geschichte der Menschheit. Als Rotarmisten 1945 vor Hitlers Bunker standen, nahm sich der "Führer" das Leben. Warum vergleichen Sie trotzdem die Diktaturen Hitlers und Stalins miteinander?

Overy: Ich möchte erklären, wie in Europa 15 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg solche Regime möglich wurden. Und indem ich die Regime vergleiche, stelle ich sie in einen europäischen Kontext, anstatt den Nationalsozialismus nur als deutsches und den Bolschewsimus als ausschließlich russisches Problem zu behandeln.

SPIEGEL: So ein Vergleich kann nur Früchte tragen, wenn die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Systemen überwiegen.

Overy: In der Tat. Es handelt sich um zwei revolutionäre Diktaturen, die jeden Bereich des Lebens verändern und die Zukunft Europas formen wollten. Sie basierten auf der Bereitschaft, sich im Namen der jeweiligen Utopie über alle traditionellen Werte des Zusammenlebens hinwegzusetzen. Beide Regime verachteten den Rechtsstaat und glaubten, dass für das Kollektiv alle Mittel gerechtfertigt seien, um die utopischen Ziele zu erreichen.

SPIEGEL: Aber die Weltanschauungen sind doch in keiner Weise vergleichbar.

Overy: Da stimme ich Ihnen zu. Der Kommunismus zielte in der Theorie auf die Abschaffung von Klassenunterschieden, auf sozialen Fortschritt und internationalen Frieden. Der Nationalsozialismus hingegen wollte eine biologische Utopie verwirklichen, in deren Zentrum ein von Deutschland dominiertes Europa stand. Aber in der politischen Praxis dominierten die Gemeinsamkeiten. Hitler wie Stalin wurden von den Staats- oder Parteiapparaten als entscheidende Instanz anerkannt. Beide nutzten den Personenkult, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie in ihrem Interesse handelten. Mit Hilfe einer streng kontrollierten Kultur versuchten Kommunisten wie Nationalsozialisten, die Werte in der Gesellschaft im Sinne der neuen Utopien zu verändern. Und natürlich spielt Terror in beiden Systemen eine wesentliche Rolle.

SPIEGEL: Mit dem Hitler und Stalin Deutsche beziehungsweise Russen in Schach hielten?

Overy: Da überschätzen Sie die Unterdrückung. Jene utopischen Projekte, für die Hitler und Stalin stehen, sind nicht möglich ohne Kollaboration in großem Stil. In den dreißiger Jahren zählten zum zentralen Apparat der sowjetischen Geheimpolizei NKWD durchschnittlich um die 20.000 Personen, dazu kamen einige 10.000 Angehörige paramilitärischer Einheiten. Damit konnte man nicht die über 160 Millionen Sowjetbürger kontrollieren. Auch im "Dritten Reich" standen in den dreißiger Jahren nur 20.000 Gestapo-Mitarbeiter etwa 68 Millionen Deutschen gegenüber. Große Teile der Bevölkerung haben vielmehr in beiden Diktaturen dabei geholfen, die Leute zu disziplinieren.

SPIEGEL: Auf welche Weise?

Overy: Durch Denunziation, sei es aus Angst oder Bösartigkeit oder weil viele wirklich glaubten, Juden oder sogenannte Klassenfeinde würden die existierende Ordnung unterminieren. Zudem ist bisher unterschätzt worden, in welchem Ausmaß die Parteimitglieder – bei der NSDAP waren es zeitweise acht Millionen, bei der KPdSU sechs Millionen – Deutsche und Russen an das jeweilige Regime banden. Die sowjetischen Genossen und die deutschen Parteigenossen spielten eine wesentliche Rolle dabei, Missliebige aufzuspüren und zugleich für die Verbreitung der jeweiligen Werte zu sorgen.

SPIEGEL: Sie schreiben, beide Regime hätten "einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung" gehabt.

Overy: Im "Dritten Reich" haben die meisten mindestens bis zum Sieg über Frankreich 1940 Hitler unterstützt. Und auch in der Sowjetunion glaubten in den dreißiger Jahren viele, das Regime sei auf dem richtigen Weg – trotz Terror, verbreiteter Armut und widriger Lebensumstände. Sie nahmen an, das sei der Preis, den man für den Fortschritt zahlen müsse.

SPIEGEL: Ihre Beobachtungen zum "Dritten Reich" stützen sich auf Berichte über die Stimmungslage, die deutsche Exilanten oder der Geheimdienst der SS erstellt haben. Worauf beruht Ihr Urteil im Fall der Sowjetunion?

Overy: Quellen wie aus dem "Dritten Reich" liegen leider nicht vor. Aber wir verfügen über ausreichend Tagebücher, Erinnerungen, Briefe.

SPIEGEL: Auf Hitler sind schätzungsweise über 40 Anschläge verübt worden, oder es gab zumindest entsprechende Pläne. Uns ist jedoch kein Fall bekannt, dass ein Attentäter Stalin nach dem Leben trachtete. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Overy: Viele Feinde Stalins waren in der Emigration und damit weit weg. Auch ließ sich Stalin durch enorme Sicherheitsvorkehrungen schützen. Aber letztlich kann man nur spekulieren.

SPIEGEL: Die Attentäter vom 20. Juli 1944 hegten die Hoffnung, mit dem Tod Hitlers würde auch der Nationalsozialismus zusammenbrechen. Ein Attentäter in Moskau konnte hingegen nicht davon ausgehen, dass das Sowjetsystem zusammenbräche, wenn er Stalin umbrächte. Möglicherweise liegt darin der Grund.

Overy: Das ist möglich. Als Stalin 1953 starb, blieb das System ja in der Tat bestehen. Vielleicht irren wir uns aber auch, und es hat Anschläge gegeben, von denen wir nur noch nichts wissen.

SPIEGEL: Stalin war zehn Jahre älter als Hitler und stieg bereits Ende der zwanziger Jahre zum Diktator in der Sowjetunion auf. Hat Hitler von ihm gelernt?

Overy: Nein. Hitler wurde allerdings von Lenin beeinflusst, vor allem in Fragen der Propaganda. Er las einige von Lenins Arbeiten während seiner Haft in Landsberg.

SPIEGEL: Ernst Nolte hat 1986 den Historikerstreit mit der These ausgelöst, der Bolschewismus sei Hitler "bewundertes Vorbild" und der Archipel Gulag sei "ursprünglicher" gewesen als Auschwitz. Was halten Sie von dieser Meinung?

Overy: Nicht viel, denn es gibt dafür keine Belege. Hitler war das Produkt deutscher Umstände.

SPIEGEL: Manche Historiker behaupten, dass der Nationalsozialismus eine "Reaktion" auf den Bolschewismus gewesen sei.

Overy: Es ist offenkundig, dass Hitler von dem Gefühl der Bedrohung durch den Bolschewismus profitiert hat, das damals verbreitet war. Aber das heißt nicht, dass das "Dritte Reich" einfach nur eine Reaktion auf den Bolschewismus gewesen ist. Es gab auch andere Gründe für die sogenannte Machtergreifung, vor allem die Krise der deutschen Nation und der deutschen Identität.

SPIEGEL: Wie würden Sie denn den Faktor Bolschewistenangst gewichten? Glauben Sie, dass die Nazis nie an die Macht gekommen wären, wenn es zuvor keine russische Revolution gegeben hätte?

Overy: Ich mag zwar keine kontrafaktischen Überlegungen, aber so kann man argumentieren.

SPIEGEL: Im Sommer 1934 entmachtete Hitler die SA, weil sie ihm zu mächtig geworden war. Er ließ SA-Chef Ernst Röhm erschießen. Stalin soll darauf mit dem Ausruf reagiert haben: "Hitler, was für ein großer Mann! So geht man mit seinen politischen Gegnern um." Hat etwa Stalin seinerseits den "Führer" imitiert?

Overy: Ich habe nicht den Eindruck, dass die beiden voneinander gelernt haben. Es ist ja nicht einmal gesichert, dass sie in den dreißiger Jahren viel voneinander wussten.

Lesen Sie im zweiten Teil: Der Streit um die Opferzahlen und um die These von Hitlers "Präventivkrieg" gegen Russland

SPIEGEL: Halten Sie die Verbrechen der beiden Diktatoren für vergleichbar?

Overy: In den letzten zehn Jahren ist einem größeren Publikum bekannt geworden, dass Stalin den Tod von Millionen zu verantworten hat, und das hat dem Urteil Vorschub geleistet, Stalin sei möglicherweise der größere Verbrecher gewesen. Ich finde solche Überlegungen überflüssig, weil sie von den eigentlichen Fragen ablenken. Davon abgesehen werden wir nie über verlässliche Angaben über die Gesamtzahl der Opfer verfügen.

SPIEGEL: Dennoch haben Sie den Holocaust und den Großen Terror der Stalin-Ära 1937/38, als Hunderttausende starben, vergleichend analysiert. Was kann man daraus lernen?

Overy: Der Geschichtsschreibung fällt es in beiden Fällen schwer, den Schritt zu erklären von der Isolierung und Diskriminierung bestimmter Gruppen, also der Juden und der sogenannten Klassenfeinde, zum allumfassenden Massenmord. Einige Historiker verweisen auf den Vernichtungswillen der beiden Diktatoren. Andere glauben, dass eine Radikalisierung von unten stattgefunden hat, also die Gauleiter oder NKWD-Leute bei Hitler beziehungsweise Stalin darauf drängten, mit dem Morden zu beginnen. Ich glaube, es wirkte in beiden Fällen eine schreckliche Dialektik. Viele im NKWD und im Apparat von SS-Chef Heinrich Himmler hatten vereinzelt Menschen getötet, wenn auch nicht in großem Stile, und warteten nur auf ein Signal von oben.

SPIEGEL: Sie deuten den Terror in beiden Systemen als "Ausdruck von Schwäche". Beide Diktatoren seien von "tiefreichenden Ängsten und Unsicherheiten" geprägt gewesen. Was meinen Sie damit?

Overy: Hitler wie Stalin waren Anhänger von Verschwörungstheorien. Der "Führer" glaubte wirklich, überall auf der Welt würden Juden daran arbeiten, Deutschland zu zerstören und war ja tatsächlich der Auffassung, wissenschaftliche Erkenntnisse würden seine Meinung stützen. Stalins Weltsicht hingegen basierte auf der Idee, dass die sozialistische Revolution immer durch bourgeoise Kräfte gefährdet sei und viele Leute, die sich als Kommunisten ausgeben, eigentlich bourgeoise Spione seien. Es war eine Phantasiewelt mit metaphorischen Feinden.

SPIEGEL: Ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit?

Overy: Man deutet sich diese zurecht. Bei Stalin löste der Spanische Bürgerkrieg 1936 Einkreisungsängste aus, die ihn überall nach Agenten suchen ließen. Und Hitler erklärte Ende 1941 den USA den Krieg, weil er überzeugt war, die Juden würden Amerika in den Krieg ziehen. Viele Historiker datieren daher die Entscheidung zum Holocaust auf den Dezember 1941.
SPIEGEL: Und warum teilten viele Anhänger Hitlers und Stalins diese obskuren Verschwörungstheorien?

Overy: Sie entsprachen dem verbreiteten Bedürfnis nach einem Feindbild. Große Teile der Bevölkerung unterstützten ja eine als idealistisch empfundene Verwirklichung einer Utopie. Die Leute wollten sich als tugendhaft empfinden und brauchten einen Feind, von dem sie sich absetzen konnten.

SPIEGEL: Folgt man Ihrer Argumentation, hätten die Säuberungen in der Sowjetunion nie aufhören dürfen, weil es absolute Sicherheit für Verschwörungstheoretiker nicht gibt.

Overy: Es war in der Tat schwierig, den Prozess zu stoppen. Aber Stalin hatte 1938 erkannt, dass die Sache außer Kontrolle geriet. Diejenigen, die Agenten jagten, wurden ja schließlich selber als Agenten festgenommen. Und der Holocaust endete bekanntlich erst mit der deutschen Niederlage.

SPIEGEL: Sie haben ermittelt, dass 1939 in der Sowjetunion über sechzig Mal so viele Menschen in Lagern eingesperrt waren wie im "Dritten Reich". Während des Krieges änderte sich diese Relation; aber auch dann saßen im Gulag deutlich mehr Menschen ein. Dennoch haben Sie das sowjetische Lagersystem als "weniger tödlich" bezeichnet. Worauf stützt sich dieses Urteil?

Overy: Ich spreche nicht über die sogenannten Vernichtungslager, also Sobibór oder Treblinka, sondern die dem Gulag vergleichbaren Konzentrationslager wie Bergen-Belsen, Dachau oder Neuengamme. Der Gulag diente vor allem zur Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Die meisten Häftlinge waren verurteilt worden und wurden nach Ablauf der Haft entlassen. Man hat die Leute schrecklich behandelt und ihren Tod oft in Kauf genommen; ich will das in keiner Weise rechtfertigen. Aber es war nicht das Ziel, sie zu töten. Aus den deutschen Lagern hingegen kam man ab Ende der dreißiger Jahre nicht wieder heraus.

SPIEGEL: Und die Erschießungen während der Großen Säuberungen?

Overy: Die erfolgten außerhalb des Gulags. Die angeblichen Spione und Agenten wurden in absurden Verfahren verurteilt und dann sofort liquidiert. Das war hunderttausendfacher Justizmord. Aber wer eine Haftstrafe erhielt, kam nach Sibirien und hatte dort eine höhere Überlebenschance als Häftlinge in deutschen KZ.

SPIEGEL: Lässt sich das quantifizieren?

Overy: Wir haben nicht für alle KZ die exakten Zahlen, aber in den Fällen, in denen wir sie haben, liegt die Todesquote bei 40 Prozent, im Gulag hingegen bei 14 Prozent.

SPIEGEL: Es wird immer wieder behauptet, im Gulag seien rund 20 Millionen Menschen umgekommen.

Overy: Das sind Phantasiezahlen. Ich gehe von 2,5 Millionen Opfern in dem Zeitraum zwischen 1930 und Stalins Tod 1953 aus. Diese Zahlen basieren auf internen Angaben der Gulagverwaltung. Nicht mitgerechnet sind diejenigen, die an den Spätfolgen der Haft oder auf dem Weg in die Lager starben. Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von den Opfern des Stalinismus insgesamt, sondern von denen des Gulags.

SPIEGEL: 1939 teilten Hitler und Stalin Osteuropa unter sich auf und gaben ihren Propagandisten Order, die wechselseitigen Attacken einzustellen. Der Pakt der Diktatoren hielt nur zwei Jahre; 1941 überfiel Hitler die Sowjetunion. War der Krieg zwischen beiden unvermeidbar?

Overy: Ja, weil Hitler Europa dominieren und den sogenannten Judäo-Bolschewismus ausrotten wollte. Stalin aber ging davon aus, dass Hitler und der Westen sich in Kriegen untereinander erschöpfen würden, und die Sowjetunion dann das Proletariat in Europa befreien könnte, wie er es nannte.

SPIEGEL: Als Hitler 1941 die Sowjetunion angriff, kam er Stalin also nicht zuvor, wie Anhänger der Präventivkriegsthese behaupten?

Overy: Ich glaube nicht, dass Stalin einen Angriff erwog, solange sich die westlichen Mächte in einer Position der Stärke befanden. Er wollte erst intervenieren, wenn sich die Gelegenheit bot, den sogenannten revolutionären Prozess zu beschleunigen. Und das setzte einen Abnutzungskrieg zwischen Hitler und den Westmächten voraus.

SPIEGEL: Der Sieg über Hitler hat Stalin nicht nur die Herrschaft über Osteuropa gebracht, sondern seinem Regime enormes Ansehen verschafft. Hat Hitlers Angriff die Lebensdauer des Stalinschen Regimes verlängert?

Overy: Ich glaube nicht. Die Opposition in der Sowjetunion war sehr schwach, um nicht zu sagen, es gab sie nicht. Es fällt einem daher schwer sich vorzustellen, was das Regime Stalins hätte ersetzen können. Für die meisten jungen Russen war ja die liberale Demokratie eine dekadentes und korruptes System.

SPIEGEL: Professor Overy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Dietmar Pieper und Klaus Wiegrefe

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