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Versäumter Hochwasserschutz "Die Flut kommt vier Jahre zu früh"

Keine Stadt in Sachsen war von der großen Flut 2002 so sehr betroffen wie Grimma. Nie mehr sollte es so schlimm kommen: Eine Schutzwand sollte gebaut werden. Doch Bürgerinitiativen verzögerten das Projekt - zu lange.

Wenn Jörg Diecke aus dem Fenster sieht, schaut er auf eine Mauer. Sie versperrt ihm den Blick auf den Fluss, die Mulde, auf grüne Wiesen und liebliche Höhenzüge am anderen Ufer, auf einen Fleck Heimat. Doch diese Mauer, die bisher nur Stückwerk ist, hätte Grimma womöglich vor einer zweiten Jahrhundertflut bewahrt.

Seit drei Tagen ist Diecke fort von daheim. Das Wasser hat sich wieder sein Zuhause geholt. Zum zweiten Mal innerhalb von elf Jahren sieht er sich wie Tausende Bewohner der Altstadt von Grimma hilflos dem Fluss ausgeliefert. Und er weiß nicht, ob er die Kraft hat, all das noch einmal durchzustehen: den Dreck, die Verluste, die Kosten, die jahrelange Aufbauarbeit.

Anders als im August 2002 ist Diecke wie 2000 weitere Menschen dem Aufruf gefolgt und hat sich von der Feuerwehr mitnehmen lassen. "Der Nachbar ist weg. Das Rauschen des Wassers, der faule Geruch, die Ungewissheit - das hätte ich nicht noch einmal ertragen." Er ist jetzt dort, wo er sich gebraucht fühlt, im Hauptquartier der Feuerwehr außerhalb der Gefahrenzone.

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Versäumter Hochwasserschutz: "Die Flut kommt vier Jahre zu früh"

Foto: Jens Wolf/ dpa

Von hier aus managt Oberbürgermeister Matthias Berger das Leben in seiner Stadt. Zwischen einer Teambesprechung, Interviews vor laufender Kamera und Hilfsangeboten per Telefon kommt er zu einem überraschenden Urteil: "Mit einer fertigen Hochwasserschutzmauer wäre die Mulde zu 100 Prozent draußen geblieben."

Bürger verzögerten den Baubeginn

Verheerend war die Flut 2002 in Grimma. 250 Millionen Euro Kosten, fast 700 Häuser beschädigt oder zerstört, Infrastruktur wie Brücken und Straßen mitgerissen. Die 30.000 Einwohner zählende Stadt war die am stärksten betroffene Kommune in Sachsen. Die Schadensbilanz entlang der Mulde veranlasste das Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft damals, ein Hochwasserkonzept zu erarbeiten. Das hat ein eindeutiges Ziel: Grimma vor einem statistisch alle 100 Jahre auftretenden Hochwasser zu schützen.

Der Plan: Entlang des Flusses, auf Seiten der Altstadt, sollen auf zwei Kilometer Länge tief im Boden fundamentierte Schottenwände und verschließbare Tore das Wasser vorbei leiten. Ein Projekt für 40 Millionen Euro, finanziert durch die Europäische Union und den Freistaat Sachsen. Doch Bürgerproteste mit langwierigen Gerichtsverfahren verzögerten den Baubeginn auf Jahre hinaus. Im August 2007 schließlich begannen unter der Regie der Landestalsperrenverwaltung die Arbeiten, die erst 2017 abgeschlossen sein werden.

Der Leiter der Talsperrenverwaltung, Axel Bobbe, nimmt kein Blatt vor den Mund, was die Kritik an der Baustelle betrifft. "Wir haben uns jahrelang in Diskussionen zum Thema Denkmalschutz in Grimma verloren. Viele Behörden und auch Einwohner wollten keine Mauer vor der Stadt." Dazu kam ein öffentlich-rechtliches Planfeststellungsverfahren, bei dem jeder Bürger, jeder Verband sich äußern und dagegen Einspruch erheben kann. "Und das haben die Leute fleißig getan", sagt Bobbe. "Uns standen zwei kräftige Bürgerinitiativen mit großen Transparenten gegenüber, die uns fast gesteinigt hätten."

Seine Behörde suchte den Ausweg in einer wissenschaftlichen Studie. Anhand eines Strömungsmodells prüfte die TU Dresden die Gegebenheiten vor Ort. Die Untersuchung verschiedener Varianten des Hochwasserschutzes hatte zum Ergebnis, dass die Mauer mit einem unterirdischen Anlagenteil auf jeden Fall gebaut werden muss. Nach weiteren erfolglosen fünf Klagen "begann der äußerst komplizierte Bau, der bis heute alle Beteiligten Nerven kostet". Man stoße immer wieder auf Fels, der Bohrer abbrechen lasse.

"Sehen, was noch steht"

In dreieinhalb Jahren sind 20 Millionen Euro verbaut worden. "Die weiteren 20 Millionen Euro sind da", sagt Bobbe. "Doch die Flut, die uns jetzt wieder ereilt hat, kommt vier Jahre zu früh."

Stanislaw Tillich, Ministerpräsident im Freistaat, dachte bei seinem Besuch am Montag in Grimma laut über Konsequenzen aus dem Streitfall Hochwasserschutzmauer nach: "Ich bin dazu geneigt, die Mitbestimmung der Bürger bei so einem wichtigen Projekt außer Kraft zu setzen."

Heulende Sirenen, anhaltender Regen, steigende Pegel - all das ist schon wieder Geschichte in Grimma. Die Mulde zieht sich langsam in ihr Flussbett zurück. Doch auf der Homepage der Stadt findet sich noch ein Termin zum Thema Hochwasserschutzwand. Am 5. Juni wird um 17 Uhr zur öffentlichen Baustellenführung mit der Talsperrenverwaltung und Stadträten eingeladen. Dann wird man sehen, ob die Flut die Wand beschädigt hat.

Aller Voraussicht nach wird Jörg Diecke an diesem Tag wieder zu seinem Haus können, "Fotos machen für die Versicherung und sehen, was noch steht."

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