RUFMORD Hurensöhne überall
Am Vormittag hat Rudolph Giuliani ganz in der Nähe noch einmal den 11. September beschworen. Katastrophen verlangen Mut, schnelle Entscheidungen, aber sie produzieren auch Fehler, sagte der ehemalige New Yorker Bürgermeister. Lasst uns nicht vergessen, dass nicht wir für diese Fehler verantwortlich sind, sondern die Terroristen. Die Mitglieder der Untersuchungskommission zum 11. September tanzten vorsichtig um den zerbrechlichsten Tag der amerikanischen Geschichte herum. Sie sollten Giuliani unter Druck setzen, aber sie bedankten sich bei ihm, bevor sie ihre Fragen stellten. Giuliani saß in seinem Nadelstreifenanzug vor der Kommission wie ein Botschafter einer untergegangenen Zeit, ein in Bernstein gegossener Held.
Ein paar Stunden später kommt Joseph Wilson nach New York, um sein Buch vorzustellen. Es heißt »Politik der Wahrheit«. Das vorsichtige Abtasten ist vorbei. Wilson war jahrelang Diplomat, aber das merkt man nicht mehr.
Draußen, vor den Fenstern der »Barnes & Noble«-Buchhandlung am Union Square, hängt eine amerikanische Flagge still im lauen Frühsommerabend, Wilsons Rockschöße aber wehen. Er kommt direkt aus Nizza. Er war Gast der Filmfestspiele in Cannes, wo der Film »Uncovered« lief - eine Dokumentation über die kriegslüsterne Bush-Regierung -, in dem er mitwirkte. Er hat gerade den Atlantik überquert, in Südfrankreich ist die Sonne längst untergegangen, er müsste müde sein, doch er wirkt munter. Ein runder Mann mit silbrigen, etwas zu langen Haaren hüpft auf die Bühne. Der Knoten seiner Hermès-Krawatte ist gelockert. Joseph Wilson lächelt.
»Ich möchte Ihnen gleich zu Anfang sagen, dass Michael Moores Film 'Fahrenheit 9/11' in Cannes ein Riesenerfolg war«, sagt Wilson.
Die 300 Zuhörer applaudieren. Ein bisschen Europa schwappt in den Saal. Wilson gefällt das, aber es darf nicht zu viel werden. Er ist Amerikaner. Er sei gern in New York, sagt er, obwohl er aus Kalifornien stammt. Er war Surfer, er arbeitete ein paar Jahre lang als Zimmermann, bevor er sich beim diplomatischen Dienst bewarb. Ende der neunziger Jahre, nach über 20 Jahren im Dienst für Amerika, gründete er ein Beratungsunternehmen für amerikanischafrikanische Beziehungen. Er lebt jetzt mit seiner Frau und zwei Kindern in Washington. Amerikaner erfinden sich pausenlos neu, sagt er. Er sei ein Bürger dieses wunderbaren, großen Landes.
»Dieses Land ist auf Prinzipien weiser Männer gegründet worden«, sagt Wilson. »Die Bürger dieses Landes haben das Recht, die Regierung zu kontrollieren, zur Rede zu stellen, anzugreifen. Ich habe von diesem Recht Gebrauch gemacht. Was die Regierung danach mir und meiner Familie angetan hat, ist schlicht und einfach unamerikanisch«, sagt Wilson.
Er berührt das dicke Buch, das vor ihm auf dem Tisch liegt. »Politik der Wahrheit«, in Deutschland gerade erschienen, erzählt auf über 400 Seiten die Geschichte eines amerikanischen Diplomaten, der seine Zurückhaltung aufgibt.
Im ersten Teil beschreibt Wilson seine Jahre in Afrika, wo er an amerikanischen Botschaften in Niger, Burundi, im Kongo und in Gabun arbeitete. Es ist die Reise
eines lebenslustigen Kaliforniers, der eigentlich immer nach Paris wollte und nie aus Afrika wegkam. Er beschreibt Elefanten und Idi Amin, Wüstensand, Bürgerkriege und die Geburt seiner ersten Kinder. Er erzählt von seinem Dienst an der Botschaft in Bagdad, die er leitete, als 1991 der erste Golfkrieg losbrach. Wilson war der letzte amerikanische Diplomat, der mit Saddam Hussein zusammentraf. Er beschreibt, wie er der berüchtigten Händedruckfalle von Saddam auswich: Saddam hielt die Hand bei der Begrüßung gewöhnlich so tief, dass sich seine Gäste auf den Protokollfotos vor ihm zu verneigen schienen. Wilson löste die amerikanische Botschaft im Irak auf, er führte seine Angestellten aus dem Land und wurde vom damaligen Präsidenten George Bush bei seiner Rückkehr nach Washington als »wahrer amerikanischer Held« begrüßt. Später fuhr er an der Seite Präsident Clintons nach Ruanda. Er war als amerikanischer Außenpolitiker im Kosovo, in Angola, in Brüssel, immer dort, wo etwas passierte.
Der geradlinige Aufstieg eines Berufsdiplomaten wird entrollt.
Dem zweiten Teil des Buches fehlt jede Geradlinigkeit. Im Februar 2002 kehrte Joseph Wilson noch einmal nach Afrika zurück, um im Auftrag von Vizepräsident Dick Cheney und der CIA herauszufinden, ob Niger Uran in den Irak exportierte. Wilson fand keinerlei Hinweise auf einen Uran-Handel und informierte seine Regierung darüber. Ein Jahr später aber sagte Präsident George W. Bush in seiner »State of the Union«-Rede, mit der er den Krieg im Irak begründete, folgenden Satz: »Die britische Regierung hat herausgefunden, dass Saddam Hussein kürzlich beträchtliche Mengen Uran aus Afrika einführen wollte.«
16 Worte in einer Präsidentenrede. Sie sind wie ein Hornissenschwarm in Joseph Wilsons Leben eingefallen. Ein Mann, dessen Aufgabe es bislang war, nicht aufzufallen, geriet plötzlich ins Scheinwerferlicht eines politischen Skandals.
Das ist der Teil, der die Leute im Saal interessiert.
»Als ich die Bush-Rede hörte, dachte ich, er kann nicht von Niger sprechen«, sagt Wilson.
Bush aber hatte Niger gemeint.
Als die Internationale Atomenergiebehörde den Uran-Schmuggel als Falschmeldung
bezeichnete, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums: »Wir sind leider darauf reingefallen.« Wenig später sagte Sicherheitsberaterin Rice, dass man vielleicht in den Eingeweiden der CIA davon gewusst habe, dass am Uran-Handel nichts dran war, nicht aber in ihren Kreisen.
Da war Bagdad bereits gefallen.
Wilson konnte das nicht fassen. Er war im Auftrag von Dick Cheney nach Niger gefahren. Im Auftrag des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Joseph Wilson begann, in der politischen Szene Washingtons über seine Reise zu sprechen. Er geisterte als anonymer amerikanischer Gesandter durch verschiedene Presseberichte, bevor er im Juli 2003 in der »New York Times« einen Leitartikel unter seinem Namen veröffentlichte, der Titel: »Was ich nicht in Afrika fand«.
Das veränderte alles. Joseph Wilson hörte auf, ein Diplomat zu sein, er verhandelte nicht mehr im Dunkeln. Es ist nicht klar, ob er sich der Konsequenzen bewusst war. Es ist nicht mal klar, ob er genau wusste, was er tat. Und was er eigentlich wollte.
Eine Woche später erschien in der »Washington Post« eine Kolumne des konservativen Journalisten Robert Novak. Wilson habe bei seiner Exkursion nach Niger nur Tee mit alten Bekannten getrunken, statt zu recherchieren. Und im Übrigen habe er den Auftrag sowieso nur bekommen, weil seine Frau Valerie Plame bei der CIA ein gutes Wort für ihn eingelegt habe. Wie er aus hohen Regierungskreisen gehört habe, arbeite Valerie Plame als Agentin für die CIA. Wieder eine Woche später verriet ein Reporter des amerikanischen Fernsehsenders MSNBC Joseph Wilson, dass er gerade mit Bush-Berater Karl Rove telefoniert habe. Rove hätte ihm gesagt: »Wilsons Frau ist Freiwild.«
Es kam heraus, dass weiteren Journalisten in Washington die Information über Wilsons Frau zugespielt worden war. Die doppelte Identität, die sich Valerie Plame über Jahre aufgebaut hatte, war zerstört. Offensichtlich eine Racheaktion aus allerhöchsten Regierungskreisen, manche verglichen es mit Watergate.
Im September 2003 begann das Justizministerium seine Ermittlungen im Fall Valerie Plame, im Oktober sagte Präsident Bush: »Wir werden der Sache auf den Grund gehen.«
Die Ermittlungen dauern an, bis heute steht nicht fest, wer die hohen Regierungskreise waren, die die Tarnung der CIA-Agentin preisgaben.
»Es gibt nur ein paar Leute, die an der Schnittstelle zwischen Politik und Geheimdienst operieren«, sagt Wilson. »Bush muss die nur zusammentrommeln und sie fragen: Wer war's? Entweder er hat das nicht so ernst gemeint, oder er hat seine Leute nicht im Griff, oder sie versuchen etwas zu vertuschen«, sagt Wilson.
Er liest ein kleines Stück, aber er fühlt sich wohler, wenn er mit den Leuten reden kann. Wenn ihn kein Manuskript hält, wenn er ausbrechen kann aus der Rolle, die er so lange spielte. Er nennt Karl Rove ein Arschloch und wartet auf den Tag, an dem Rove »in Handschellen aus dem Weißen Haus geschleppt« wird.
Neulich ist Wilson in Washingtons berühmtester Politik-Talkshow »Meet the Press« gefragt worden, ob er den Vizepräsidenten Dick Cheney in Iowa wirklich einen »lügenden Hurensohn« genannt habe. Der Moderator benutzte die amerikanische Abkürzung für »Son of a bitch«, weil die Talkshow am Sonntagmittag lief. »S. O. B«, sagte er.
»Lügender Hurensohn ist so ungefähr das Netteste, was mir zu Dick Cheney einfällt«, hat Wilson geantwortet. »Dick Cheney hat das amerikanische Volk belogen wie kein Zweiter. Über Massenvernichtungswaffen im Irak, über die Verbindungen zwischen Saddam und al-Qaida, über die Umweltpolitik. Er verkörpert all das, was furchtbar ist an dieser Administration.«
In seinem Buch schreibt er, dass Diplomaten, ähnlich wie Rechtsanwälte, oft Positionen vertreten müssen, die sie nicht teilen. Er hat diese Ketten gesprengt. Er wütet und trampelt zwischen all den vorsichtig formulierenden politischen Journalisten Washingtons herum, dass es eine Freude ist.
Ein Hurensohn ist ein Hurensohn.
»Mit Novak, diesem gewissenlosen Sack, sind wir noch nicht fertig«, ruft er seinem New Yorker Publikum am Ende zu.
Wilson signiert dann Bücher. Sein Lektor steht an einem Bücherregal und schaut auf die Schlange, die sich langsam am Autor vorbeischiebt.
»Wir haben so 20 000 Stück verkauft«, sagt der Lektor, »wir sind in der Bestsellerliste der 'Times', und es hört nicht auf. Joe bleibt im Gespräch. Er wird auf dem Parteitag der Demokraten sprechen, er ist Gast bei der 'Letterman-Show' im Juli, wenn alles gut geht.«
Joseph Wilson signiert das letzte Buch. Die Frau nimmt es in die Hand, sie geht, dreht sich noch einmal um.
»Wie werden die Wahlen ausgehen?«, fragt sie.
»Die Republikaner werden alles verlieren. Die Regierung und den Senat. Ein Erdrutsch.«
Die Frau lächelt, als sie den Raum verlässt. Was für ein Versprechen. Es ist jetzt dunkel draußen auf dem Union Square, die große Buchhandlung ist fast leer. Wilson ist müde, er hat keine Energie mehr, sein Publikum ist weg. Womöglich verliert er in so einer Situation das Gefühl, für die Mehrheit im Land zu sprechen.
Draußen wartet eine Limousine, die ihn ins Hotel bringen wird. Der Lektor erinnert ihn daran, dass er morgen früh um fünf Uhr abgeholt wird.
Wilson nickt und steigt in den Wagen.
Er hat noch die kleine Firma in Washington, die Geschäfte zwischen afrikanischen und amerikanischen Partnern anbahnen soll, aber die liegt praktisch still, nachdem er den Artikel für die »New York Times« schrieb. Mit wild gewordenen Ex-Diplomaten macht man nicht so gern Geschäfte wie mit stillen Amerikanern.
Wovon lebt er? »Oh, mein Lektor hat mir versprochen, dass ich mit dem
Buch steinreich werde«, sagt er und lacht.
Hat er jemals bereut, die Regierung angegriffen zu haben?
»Es ist meine Pflicht als Bürger«, sagt Wilson. »Es ist nicht mutig, was ich hier mache. Mutig war ich 1991 in Bagdad. Da ging es um Leben und Tod. Jetzt geht es um Zivilcourage. Es ist das, was dieses Land ausmacht.«
Ein Großonkel war Bürgermeister von San Francisco, einer Kongressabgeordneter, seine Großväter kämpften in beiden Weltkriegen, sein Vater war Marineflieger im Zweiten Weltkrieg. »Keiner von ihnen war Demokrat«, schreibt er.
Will er beweisen, dass er unparteiisch ist?
»Ich bin ein amerikanischer Bürger«, sagt Wilson. »Ich bin stolz, ein Amerikaner zu sein. Ich bin stolz, aus einer Familie zu stammen, die ihrem Land seit Generationen treu diente.«
Der Fahrer der Limousine mustert ihn im Rückspiegel.
Wilson schaut aus dem Auto, das schlafende Midtown fliegt vorbei. Er murmelt etwas von Thomas Jefferson und Benjamin Franklin.
»Wir haben eine wunderbare Verfassung, ich lese viel darin«, sagt Wilson.
Er klammert sich an die Grundfesten. Alles rutscht weg, es scheint keine Gewissheiten mehr zu geben. Gestern war er noch in Europa. Er hat mit ehemaligen Kollegen gesprochen. Es ist schwer, in diesen Zeiten amerikanischer Diplomat zu sein, haben sie ihm erzählt. Vielleicht versinkt sein Buch wie ein Stein zwischen all den anderen politischen Abrechnungen dieses Jahres. Vielleicht werden die Leute, die seine Frau verraten haben, nie gefunden.
Wilson hat die Namen von zwei Männern in sein Buch geschrieben, von denen er annimmt, dass sie seine Frau verrieten: Lewis Libby, Cheneys Bürochef, und Elliott Abrams, ein Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat, der Bush als NahostExperte berät. Aber Wilson kann nichts beweisen. Washington schweigt. Nicht mal die Journalisten, die die Tipps bekamen, reden.
»Einige haben mir geantwortet, dass sie Angst haben. Einer sagte, er will nicht nach Guantanamo geschickt werden, was ich mal als Metapher betrachte, ein anderer sagte, er hat zwei Kinder auf Privatschulen und einen Kredit auf seinem Haus. Sogar sanfte Kritik an dieser Administration zieht Telefonanrufe aus hohen Regierungskreisen an die Chefredaktion nach sich«, sagt er.
Als wir am Central Park vor seinem Hotel halten, sagt der Fahrer: »Ich finde das wunderbar, was Sie machen,«
»Danke«, sagt Wilson.
Sein Schritt wird wieder ein bisschen entschiedener, das Jackett flattert. Er betritt die Halle des Essex House, als würde man ihn erwarten. Aber die Halle ist leer. Er lässt sich in ein Sofa in der Lobby fallen, stellt die Büchertüte zwischen seine Beine.
Er hat vorhin gesagt, dass er den Kolumnisten Novak rankriegen will. Was meint er damit?
»Oh, seine Corvette sieht weitaus besser in meiner Garage aus. Irgendwann wird meine Frau den Wagen fahren. Ich glaube, das ist in etwa das, was ich meinte«, sagt Wilson und lehnt sich lässig zurück. Sein Handgelenk rutscht aus dem Jackettärmel und gibt ein kleines glänzendes Kettchen frei.
Seine Kritiker werfen Wilson vor, dass er den Skandal aus Eitelkeit gesucht habe. Er trägt oft eine Sonnenbrille, immer teure Krawatten. Er raucht gern kubanische Zigarren. Für ein Porträt in »Vanity Fair« ließ er sich mit seiner Frau im Cabrio fotografieren, wie ein Hollywood-Paar. Wilson stopfte Prominentennamen in sein Buch, wo es nur geht. Als er die schwere Krankheit seiner ersten Frau beschreibt, vergisst er nicht zu erwähnen, dass John Wayne im selben Krankenhaus im Sterben lag. Mit seiner dritten Frau sitzt er bei einem Dinner neben Annette Benning und Warren Beatty. In seinem Arbeitszimmer hängt ein Glückwunschschreiben des alten Präsidenten Bush. Die beiden persönlichen Begegnungen, die er mit George Bush und später mit Bill Clinton hatte, leuchtet er liebevoll bis ins kleinste Detail aus.
Er ist eitel. Aber vielleicht muss man eitel sein, um sich mit dem amerikanischen Präsidenten anzulegen.
Joseph Wilson steht auf, er spielt den Händedruck nach, den er damals, 1990, Saddam Hussein gab. Er hat dem Diktator in die Augen geschaut, nicht auf die ausgestreckte Hand. Er hat einfach gewartet, bis sich ihre Hände trafen. Das war der Trick, sagt er.
Dann geht er ins Bett. Morgen früh muss er weiter.
Drei Tage später betritt Joseph Wilson eine Buchhandlung in Santa Monica, Kalifornien. Die Los Angeles Lakers spielen heute Abend um den Einzug ins NBA-Finale, aber der Raum ist voll. Wilson sagt, dass er eigentlich in schwarzen Jeans und T-Shirt hätte kommen sollen, wie ein richtiger Schriftsteller.
»Aber Sie wollen ja doch immer den Botschafter sehen«, sagt er.
Es ist eine traurige Bemerkung, aber die Leute lachen. Wilson braucht den Anzug, um den Weg deutlich zu machen, den er hinter sich hat. Er lässt den Botschafter immer wieder explodieren. Er sagt, dass Condoleezza Rice lügt und Colin Powell eine der Schlüsselfiguren für den Krieg war, weil er seine Glaubwürdigkeit für diese Verbrechen nutzte. Colin Powell müsse sich vor der Geschichte verantworten. Wilson erzählt wieder, dass Dick Cheney gut weggekommen ist, als er ihn einen lügenden Hurensohn nannte.
»Dies ist die undemokratischste Regierung, die wir jemals hatten. Reagan und Nixon waren Heilige gegen Bush. Die einzig gute Nachricht ist, dass wir im Herbst Wahlen haben«, sagt Wilson. »Es sind die wichtigsten Wahlen in meinem Leben.«
Es wäre ein gutes Schlusswort, Wilson lächelt, er denkt daran, dass er in 20 Minuten eine Verabredung zum Abendessen mit Robert De Niro in West Hollywood hat. Das könnte er gerade so schaffen. Eine Frage noch. Jemand will wissen,
ob Howard Dean nicht doch der bessere demokratische Kandidat gewesen wäre.
Nein, sagt Wilson. Er erklärt, warum es ein Fehler war, dass Dean gegen die Kriegsresolution im Kongress stimmte, und richtig, dass Kerry dafür war.
»Einen Diktator wie Saddam Hussein kann man nur mit ernsthafter Gewaltandrohung beeindrucken«, sagt er.
Das zieht weitere Fragen nach sich. Die Dinge liegen nicht so einfach. Wilson ist in einer Welt von einerseits und andererseits groß geworden. Er verehrt den alten Bush und verachtet den jungen. Das ist alles schwer zu erklären, wenn man in Eile ist. Er braucht eine halbe Stunde, und am Ausgang steht noch ein alter Schulfreund mit ein paar persönlichen Geschenken.
Wilson rennt über den Parkplatz. Er wirft die Tüte mit den Geschenken seines Freundes auf den Rücksitz seines gemieteten Cabrios. Dann lässt er das Verdeck runtersurren. Obwohl es dunkel ist, kalt und er schon vor 20 Minuten bei Robert De Niro sein sollte. Die Zeit muss sein, das hier ist Kalifornien.
Die Lakers spielen, die Straßen von Los Angeles sind verlassen. Wilson jagt durch die Stadt, seine Haare flattern im Wind, der Palmpilot ruht auf seinem Schoß, wenn er an einer Ampel halten muss, ordnet er die Krawatte über seinem Bauch.
Er hat eine erstaunliche Reise hinter sich. Anfang 2000 hat er noch Geld für den Vorwahlkampf von George W. Bush gespendet, weil er ihn für den besseren republikanischen Kandidaten hielt. Er spendete auch Geld für Al Gore, in dessen Büro er vor vielen Jahren arbeitete. 2002 fuhr er für Dick Cheney nach Niger. In diesem Januar ist er dem Wahlkampfteam von John Kerry beigetreten. Er ist Kerrys außenpolitischer Berater.
Gab es je einen Punkt, an dem sich die Dinge in seinem Leben verschoben?
»Ich glaube, es war, als Richard Perle bei der Tagung des Amerikanisch-Türkischen Rates sprach«, sagt er. »Das war im März 2002, ein paar Wochen nach meiner Reise nach Niger. Perle war da sehr offen, was unsere Pläne im Irak anging. Es waren imperiale Ziele. Und irgendwie beschloss ich an diesem Abend, dass Perle und seine neokonservativen Freunde in der Regierung keine freie Fahrt nach Bagdad verdienen.«
Wilson nimmt den Palmpilot aus seinem Schoß und versucht Robert De Niro zu erreichen.
»Bob, Joe hier, tut mir Leid, ich bin in etwa zehn Minuten da«, sagt er und gibt wieder Gas.
Bob. Er lächelt, manchmal scheint er von seinem eigenen, neuen Leben beeindruckt zu sein.
Sieht er John Kerry oft?
»Oh, nein, ich hab ihn seit Wochen nicht gesehen«, sagt Wilson. »Aber das ist auch nicht so wichtig. Wir diskutieren Grundlinien, und ich arbeite in meinen Veranstaltungen ja ohnehin für ihn. Es geht auch gar nicht anders. Ich habe bestimmte Positionen, die radikaler sind als seine. Die könnte er gar nicht vertreten, ohne Schaden zu nehmen.«
Hat er nie überlegt, selbst in die Politik zu gehen?
»Doch. Aber ich habe vierjährige Zwillinge, und Politik ist ein harter zeitaufwendiger Beruf. Ich möchte zuallererst ein guter Vater sein. Außerdem hat meine Frau gesagt, sie will nicht in die Öffentlichkeit. Es ist schwer, in Amerika gewählt zu werden, wenn die Frau nicht neben dir auf der Bühne steht. Ich respektiere meine Frau.«
Der erste Satz in Wilsons Buch gilt seiner Frau Valerie, der letzte auch. Thomas Jefferson hin und her, aber Wilson liebt seine Frau. Sie hatte nichts mit all dem zu tun. Vielleicht verteidigt er Amerika, vielleicht auch nur seine Frau. Vielleicht kann man das auch nicht mehr voneinander trennen. Womöglich ist »Politik der Wahrheit« ein über 400 Seiten dicker Liebesbrief.
Der Wind donnert in das Cabrio, Wilson lächelt. Natürlich kann er das nicht so stehen lassen, aber er will es auch nicht abstreiten. Es ist kompliziert.
Und Robert De Niro wartet.
Wilson fährt den Wagen mit quietschenden Reifen an den Bordstein des La Cienega Boulevard.
Er rennt das letzte Stück zum Restaurant.
Worüber redet er mit De Niro?
»Dazu sage ich nichts«, sagt Wilson.
Würde er gern sehen, dass sein Leben verfilmt wird?
»Unbedingt. Man erreicht über das Kino in Amerika sehr viel Leute«, sagt er und springt in das Restaurant.
Am nächsten Tag diskutiert er vor 2000 Zuhörern an der Universität in Santa Barbara mit dem neokonservativen Publizisten William Kristol. Weitere 1200 Studenten sitzen draußen und sehen sich das auf einem Monitor an. Dann fliegt er nach Chicago, um die »Politik der Wahrheit« dem Mittelwesten vorzustellen. Dazwischen gibt er Interviews, fünf, sechs am Tag. Er ist vielleicht kein Diplomat mehr, aber man könnte ihn immer noch Botschafter nennen. Botschafter des anderen Amerika. Was immer das ist, es muss größer werden.
Wilson sitzt in seinem Büro in Washington. Es war eine ereignisreiche Woche. CIA-Chef George Tenet ist zurückgetreten, der Boss seiner Frau. Er glaubt nicht, dass es einen Zusammenhang gibt, aber die Dinge kippeln. Am Wochenende las er in der »New York Times«, dass Dick Cheney vor der Staatsanwaltschaft zum Fall Valerie Plame ausgesagt habe. Er weiß nicht wann, und es ist auch nicht klar, was der Vizepräsident gesagt hat. Bush habe sich einen Strafverteidiger genommen, um sich auf seine Aussage vorzubereiten, stand auch in der Zeitung. Es war ein eigenartiger Bericht, in einem geheimnisvollen Ton abgehalten. Irgendetwas aber scheint unter der Oberfläche dieser Meldung zu grummeln.
Joseph Wilson ist gut gelaunt. Er kämpft an vielen Fronten, und manchmal weiß man nicht genau, wofür.
Botschafter Joseph Wilson erfindet sich gerade neu. Denn er ist Amerikaner.