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SEXUALVERBRECHEN Im Netz der Dossiers

Mehr als fünf Jahre nach der Verhaftung des belgischen Kinderfängers Marc Dutroux treten die Ermittlungen auf der Stelle. Davon lebt eine Industrie der Enthüller und Verschwörungstheoretiker. Deren neueste Absurdität: Dutroux werde vom Königshaus gedeckt.
aus DER SPIEGEL 42/2001

Er hat nicht mehr viel zu verlieren. Keinen Ruf, keine Zukunft, keine Würde. Also nimmt Marc Dutroux sich die letzte Freiheit. Er nässt sich ein. Er kackt sich voll.

Wie ein kleines Kind.

Am 13. August 1996 wurde er verhaftet, nun sitzt Belgiens berüchtigtster Häftling im Gefängnis von Arlon, im äußersten Südostzipfel des Landes. Ein Fluchtversuch im April 1998 wurde von einem zufällig vorbeikommenden Förster nach vier Stunden beendet. Seither hockt Marc Dutroux in seiner Zelle, legt Riesenpuzzles und schweigt.

Er hat zugegeben, seinen Kumpan Bernard Weinstein betäubt und lebendig begraben zu haben. Teilnahmslos hat er zugesehen, wie die Polizei aus seinem Garten die geknebelten Leichen zweier kleiner Mädchen ausgrub, die Vagina der einen auf neun Zentimeter geweitet.

Dutroux hatte auch zugegeben, vier andere Mädchen von der Straße in seinen Lieferwagen gezerrt und in einem selbst gebauten Kerker über Wochen gefangen gehalten zu haben. Vergewaltigt zu haben. Er habe mit ihnen ein Leben außerhalb der Gesellschaft führen wollen, hat er gesagt.

Nur er weiß, ob er wirklich auf eigene Rechnung gearbeitet hat oder ob hinter ihm ein schützendes Netzwerk stand und womöglich noch steht. Der Prozess steht noch aus.

Aber Marc Dutroux schweigt, lernt für sein Studium der Mathematik und Geschichte und sagt kein Wort. Nur wenn er aus seiner Zelle zum Richter nach Neufchâteau gebracht wird, gibt er von sich, was niemand haben möchte, entleert seine Blase und seine Gedärme als letzten Akt des Widerstands. Die Wachen beschweren sich. Es stinkt im Mercedes-Transporter der Justiz, es stinkt im Büro des Richters, es pestet überall, wo Marc Dutroux den Fuß hinsetzt. Und jetzt weht ein Ruch sogar bis an die Tore des königlichen Palastes.

In einem großen Pariser Verlag erschien das Buch zweier Luxemburger Journalisten*. Gestützt auf diverse Dossiers und nie bewiesenen Zeugenaussagen behaupten sie, dass kein anderer als der belgische König Albert II. für den schleppenden Gang der Ermittlungen im Fall Dutroux verantwortlich sei. Es gebe Hinweise, wonach der damalige Prinz in den frühen Achtzigern an Sexpartys teilgenommen habe, bei denen - neben einem Premierminister, dem Chef der Gendarmerie, einem Richter - auch zwei minderjährige Jungen anwesend gewesen seien, die später spurlos verschwanden; eine Mitwisserin soll beseitigt worden sein.

Das sind aberwitzige Anschuldigungen. Sogar in einem Land wie Belgien, in dem die Bürger seit der Dutroux-Affäre wenig für undenkbar halten, was ihren Staat betrifft. Der Königliche Hof hat gegen den Verlag nach Erscheinen des Buches rechtliche Schritte unternommen: »Diesen seit langem bekannten Behauptungen ist juristisch, parlamentarisch und journalistisch nachgegangen worden, und sie haben sich als unbegründet erwiesen.«

Jean Nicolas, der Hauptautor des Buches, gehört zu den Menschen, die davon überzeugt sind, dass im Innersten der Welt Geheimdienste und Seilschaften die Räder drehen. Von dieser Überzeugung lässt er sich allerdings Appetit und gute Laune nicht verderben. Man trifft ihn in einer denkmalgeschützten Brasserie am Pariser Boulevard Saint-Germain, weil Reisen nach Belgien zur Zeit nicht ratsam seien: »Ich würde sofort nach Brüssel zum Verhör einbestellt.«

Nicolas lebt davon, aus der dem Normalbürger abgewandten Seite der Wirklichkeit Botschaften in Form von Enthüllungsbüchern zu senden. Er ist keine unumstrittene Figur im Benelux-Journalismus. Aber manchmal taugen seine Methoden. 1998 hat er die Vetternwirtschaften

der EU-Kommissarin Edith Cresson mit

aufgedeckt und dazu beigetragen, die kom-

plette Kommission zum Rücktritt zu bewegen.

Auch König Albert II. bliebe keine Wahl, als im Herbst zurückzutreten, erklärt Nicolas: »Eine Erörterung unserer Vorwürfe im Parlament würde die Monarchie zerstören. Ebenso wenig kann sich Belgien einen breit angelegten Dutroux-Prozess leisten.«

Und er erzählt von der Vor-Aids-Zeit, als es unter Brüsseler Ärzten, Juristen, Beamten zum guten Ton gehört haben muss, nackt und im Rudel aufzutreten. Nicolas zitiert aus einem offiziellen Untersuchungsbericht, in dem auch ein Sexclub namens »Jonathan« erwähnt wird. »Dessen Spezialität«, sagt er, »war laut Bericht ein mit Marmelade gefülltes Gummiboot. Die oberste Schicht schimmelte und musste ständig abgeschöpft werden. Im Jonathan verkehrten Politiker, hohe Beamte, Journalisten und Kriminelle gleichermaßen. Alle konnten sich in den Spiegeln oberhalb des Boots betrachten, und keiner wusste, dass sich dahinter Videokameras befanden. Erst schaute der Barbesitzer zu, dann der belgische Geheimdienst.«

Das »Dossier Pédophilie« enthält durchaus auch Lesenswertes über die Kindheit von Marc Dutroux. Für die Königs-Kolportage jedoch werden nur drei altbekannte Zeuginnen angeführt. Eine davon taucht in dem Buch als »X3« auf, eine ältere Dame, die einen guten Namen in der Kinderschutzbewegung hatte, bevor sie anfing, den Dutroux-Ermittlern zu erzählen, sie habe in ihrer Kindheit selbst an Sado-Maso-Orgien teilnehmen müssen und dabei in Aspik eingelegte Kinderfinger gegessen.

Die Aussagen der X3 lesen sich wie vom Marquis de Sade im Koksrausch geschrieben: hochherrschaftliche Treibjagden auf Kinder, Rottweiler, bestialische Morde in Anwesenheit des Premierministers und des belgischen Hochadels, einschließlich des Königs Baudouin und seines Bruders, des damaligen Prinzen Albert. Die Beamten hörten sich die Ausführungen geduldig an. Dann klappten sie die Akten zu.

So bleibt als Hauptzeugin Christine D., eine in Scheidung lebende Mutter von drei Kindern, die 1981 bei einem Abendessen von ihren Gruppensex-Erfahrungen im Golfclub von Waterloo erzählte. Dabei lief heimlich ein Tonband mit, weil ein Nervenarzt für seinen eigenen Scheidungsprozess Belastendes gegen seine Frau sammelte, die ebenfalls im Golfclub verkehrte.

Laut Tonbandabschrift beschuldigte Christine D. einen Familienrichter A., zwei Kinder aus seiner Obhut zu den Orgien mitgebracht zu haben. Eine Mitwisserin sei durch Manipulation ihres Wagens umgebracht worden. Zitat: »Der Prinz Albert ist in die Geschichte verwickelt. Er ist über alles auf dem Laufenden und verlangt, dass alle dichthalten. Er hat zu A. gesagt: Ich decke dich.«

Wenig später zog D. ihre Aussage vollständig zurück. Vor der Polizei erklärte sie, die prominenten Namen seien ihr von dem Nervenarzt selbst in den Mund gelegt worden: »Ich habe das alles nur gesagt, um den aufgewühlten Arzt zu beruhigen.« Und die angeblich Ermordete hat sich nachweislich in einem Hotelzimmer das Leben genommen.

Wozu also die ganze Aufregung? Das Dossier mit Christine D.''s Aussagen ist seit 1981 in den Schubladen der Polizei verschwunden. Dennoch geistert es bis heute durch die Phantasien von Aufdeckern und ernährt eine nicht kleine Gemeinde von Enthüllungskünstlern. Die Buchläden sind voll mit ihren Büchern, wildesten, mit Aktenzeichen gespickten Komplotttheorien, wie sie nur in einem Staatswesen blühen können, in dem heikle Akten so lange von Schreibtisch zu Schreibtisch geschoben werden, bis sie in Vergessenheit geraten sind.

»Das ist die belgische Krankheit«, sagt einer, der selbst infiziert ist: Michel Nihoul. »Jeder besitzt über jeden ein belastendes Dossier, um es bei passender Gelegenheit als Druckmittel einzusetzen.« Nihoul ist eine der windigsten Figuren der Dutroux-Affäre. Der ehemalige Fischhändler und Bankrotteur hat kurz vor einer Kindsentführung auffallend häufig mit Dutroux telefoniert. Bis heute behauptet er, es sei bei den Telefonaten nur um sein kaputtes Auto gegangen. Ein Gespräch wurde von der Polizei aufgezeichnet: »Wenn Lelièvre (der Helfer von Dutroux) mich reinlegt, werde ich ihn kriegen.«

Nihoul wurde als mutmaßlicher Komplize kurz nach Dutroux verhaftet, konnte aber nur wegen Betrugs und Unterschriftenfälschung verurteilt werden. Heute lebt er im Brüsseler Stadtteil Jette, in einem Hochhausblock mit integrierter Polizeiwache.

Michel Nihoul wartet am Ende des Flurs, auf einen Stock mit Silberknauf gestützt, und hat die kalten Augen eines Fisches. Mit der Geste des Grandseigneurs bittet er in die Zweizimmerwohnung ohne Bad, richtet das Einstecktuch an seinem Anzug und fängt an, mit Timbre und wohlgesetzten Worten über seine Unschuld zu reden. »Mancher mag Sex mit Fünfzehnjährigen, mancher mit Zwölfjährigen, mancher mit Dreijährigen. Ich nicht. Mit Kindern habe ich nie etwas angestellt. Ich liebe Kinder.«

Der Mann sieht ungesund aus, blass und aufgedunsen wie gerade aus dem Wasser gezogen. Er strömt den Geruch von süßem Parfüm aus. Auf dem Sofa sitzt seine Lebensgefährtin Marleen, eine nicht unsympathische, stark gehbehinderte Blondine mit auffälliger Oberweite, die Nihoul bei einer Orgie kennen gelernt hat. Die beiden sind schon so lange zusammen, dass ihre Sätze ineinander haken wie die Teile eines Reißverschlusses.

Es gebe kein Netzwerk, sagen die beiden. Dutroux habe die Mädchen nur »pour sa propre consommation« eingefangen - »zum persönlichen Verzehr«. Ein professioneller Ring hätte die Mädchen doch längst beim Besteller abgeliefert. Er selbst sei übrigens ein geborener Händler, sagt Nihoul.

Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass Dutroux sich von ihm beraten ließ, wie man in den Mädchenhandel einsteigt. Nihoul habe ihm geraten, Sado-Maso-Partys zu veranstalten. Das bringe mehr ein. »Ich dachte natürlich, der redet von Erwachsenen«, sagt Nihoul. »Aber das glaubt ihm ja niemand«, sagt Marleen vom Sofa herüber und schüttelt traurig den Kopf.

»Dutroux bot mir Osteuropäerinnen an. Schon möglich, dass er andere Pläne mit mir hatte. Aber er wurde vorher verhaftet«, sagt Nihoul. Er atmet schwer beim Reden und schwitzt Parfüm.

Dann erzählt er von früher. Wie er und Marleen Gruppensex-Partys veranstalteten, »aber mit Stil!«, an denen einflussreiche Politiker und Beamte teilnahmen. Im Club »Le Dolo« oder im Mietschloss Faulx-Les-Tombes bei Namur. Von diesen Belustigungen soll es Fotos und Filmaufnahmen geben. Nihoul kokettiert gern mit seiner Gästeliste. Einer der ersten Sätze ist gewesen: »Ich habe die Regierung in der Hand.«

Er ist eben ein Händler. Er handelt mit allem, was ihm in die Finger kommt. Mit Fischen, mit Pillen, mit Frauen und in jüngster Zeit notgedrungen mit Geschichten. Ein Interview kostet 1000 Mark: »Legen Sie noch 20 000 drauf, und ich liefere Ihnen einen amtierenden Minister, der in einen Mord verwickelt ist.« Angeblich alles beweisbar: »Ich kenne den Mörder und lasse ihn beim Minister anrufen. Sie hören mit, okay?«

Dann bittet Nihoul, das Aufnahmegerät abzuschalten, und senkt die Stimme. Es gebe da noch ein Sonderangebot. Für eine sechsstellige Summe. »Denn dann müsste ich Belgien verlassen. Ich gebe Ihnen das Foto, auf dem der damalige Prinz Albert gerade ein 16-jähriges Mädchen bespringt. Nackt. Aufgenommen im zweiten Stock des Mirano-Clubs vor 20 Jahren. Na?«

Und schon ist das Netz des Raunens weitergesponnen. Als ob es in Belgien nicht genug Teilungen gäbe, hat sich das Land seit der Festnahme von Marc Dutroux in zwei neue Lager gespalten. Es gibt die Gläubigen und die Nichtgläubigen. Beide haben ihre heiligen Schriften, ihre Prediger, Exegeten, Rundbriefe, Episteln und Märtyrer. Die Gläubigen sind davon überzeugt, dass hinter Dutroux ein allmächtiges Netzwerk steht, das allein deshalb unentdeckt bleiben konnte, weil seine Arme bis nach oben reichen - bis ganz nach oben.

Die Ungläubigen halten das für Quatsch. Für Aberglauben und Hysterie eines tief verunsicherten Königreichs. Aber auch sie bestreiten nicht, dass es während der Fahndung nach Dutroux zu Pannen gekommen ist, die jedem »Tatort«-Schreiber als unglaubwürdig aus dem Drehbuch gestrichen würden.

Auf der Suche nach den beiden verschwundenen Mädchen Melissa und Julie durchsucht ein Gendarm das Haus von Dutroux. Ihm ist bekannt, dass der Hauseigentümer ein verurteilter Serienvergewaltiger ist. Die Polizei hat außerdem einen Hinweis bekommen, dass Dutroux ein Kellerverlies angelegt habe. Als der Gendarm durch die Wohnung läuft, findet er Ketten, Chloroform, Vaginalcreme und ein Speculum. Dann hört er Kinderschreie. Und geht seiner Wege: Er habe angenommen, sagt er später, die Schreie seien von der Straße gekommen. Es war ein kalter Wintervormittag. Die Straßen waren leer und alle Kinder in der Schule.

Ist das Komplizenschaft oder hoffnungslose Tumbheit? Den fassungslosen Belgiern machte es im Herbst 1996 keinen Unterschied. Sie gingen zu Hunderttausenden schweigend auf die Straße. Die »Weißen Märsche« sprachen einem Staat die Legitimität ab, der sich als unfähig erweist, die Allerschwächsten zu schützen, aber gleichzeitig zulässt, dass ein Sexualverbrecher vorzeitig entlassen wird, von Sozialhilfe lebt und jahrelang Kinder von ihren Fahrrädern zerren, einkerkern, missbrauchen und wegwerfen kann wie ein gebrauchtes Kleenex.

Sie hatten genug von den Kirchturmkämpfen zwischen Gendarmerie und Justizpolizei, vom Justizsystem, das nur deshalb aufgeblasen ist und organisiert wie ein Schnittmusterbogen, weil alle Klientelen, Regionen, Parteien bedacht werden müssen. Belgien taumelte damals zwischen dem real existierenden Surrealismus der Fahndung und den alptraumhaften Erzählungen von Opfern, die bei einer anonymen Telefonleitung der Polizei abluden, was sie bis dahin im dunkelsten Winkel ihrer Psyche deponiert hatten. Plötzlich schienen überall im Land tote Kinder vergraben zu liegen.

Die Beklemmung steigerte sich, als immer mehr Menschen aus dem weiteren Umfeld der Ermittlungen ums Leben kamen. Ein Schrotthändler wollte über das Entführungsauto aussagen und wurde vergiftet aufgefunden, wenig später verbrannte seine Frau. Eine Aktivistin der Kinderschutzbewegung stirbt bei einem Autounfall, kurz nachdem sie auf »snuff movies« gestoßen war, Videos, auf denen die Ermordung von Kindern zu sehen ist. Der in Lüttich ermittelnde Staatsanwalt schoss sich eine Kugel in den Kopf, wenige Stunden, nachdem er vom neuen Justizminister Marc Verwilghen freie Hand für seine Ermittlungen bekommen hatte.

Alles nur Zufall? Oder der Hinweis auf ein mächtiges Kartell? Fragen ohne Antworten untermauern nur die Gewissheiten der Gläubigen.

So viele Ungereimtheiten, Fahrlässigkeiten, nicht zu Ende verfolgte Spuren können, so vermuten es die Gläubigen, nur auf ein Netzwerk hinweisen. Und wenn trotz jahrelanger, akribischer Arbeit von Journalisten kein vor Gericht verwertbarer Beweis gefunden wurde, wenn es nur bei vagen Indizien und der Frage geblieben ist - dann müsse man sich fragen, warum so vielen Spuren nicht nachgegangen worden sei. Und dann liegt es wohl auch nahe, das Haupt der Verschwörung dort zu suchen, wo keiner mehr schauen kann: hinter den Toren des Königspalastes.

Der belgische Glaubensstreit erstreckt sich bis in das Ermittlerteam hinein. Der leitende Staatsanwalt Michel Bourlet möchte die Untersuchung weit fassen, um jeden Verdacht auf ein Netzwerk auszuräumen. Jacques Langlois, der ermittelnde Richter, hat sich angesichts der unendlichen Verschwörungsgeschichte für die Pragmatik entschieden. Er scheint davon auszugehen, dass Dutroux ein perverser Einzeltäter ist, der in das Geschäft mit Kindern einsteigen wollte. Gewissenlos und von kältester Grausamkeit. Jemand, der auf die Idee kam, Kinder zu verkaufen, weil er mit gestohlenen Autos oder Videos kein Geld mehr verdienen konnte.

Das ist denkbar. Vielleicht ist Dutroux tatsächlich gerade deshalb aufgeflogen, weil er nicht für ein professionelles Netzwerk gearbeitet hat. Weil er sich sein Geschäftskapital noch auf der Straße zusammenrauben, von Fahrrädern herunterzerren musste. Weil er nicht wusste, dass der gewöhnliche Pädophile andere Wege geht, lautlose, auf denen meistens keine sichtbaren Spuren zurückbleiben.

Meistens. Manchmal doch.

Regina Louf ist eine handfeste junge Frau, die in der Nähe von Gent, am Rande der Europastraße 17, eine Hundezucht betreibt. Sie ist auffällig kleingewachsen. Ihr weiß getünchtes Haus ist voll mit Familienfotos in herzförmigen Rahmen und Engelsfiguren. Es riecht nach Hund. Auch damals hätten die Männer manchmal Hunde dabeigehabt, sagt sie.

Die Welt wäre besser, wenn Regina Louf verrückt wäre. Dann müsste man sich nicht fragen, was es für eine Achtjährige bedeutet, von der Großmutter nach oben in das Zimmer mit der Nr. 7 geschickt zu werden, wo der Onkel mit dem haarigen Bauch wieder seine Hose ausziehen wird. Dann könnte man den Schrecken in eine andere Welt abschieben, aus der keine Schreie herüberdringen.

In Belgien gibt es kaum jemanden, der diese Frau nicht kennt. Wenn nicht als Regina Louf, dann als »X1«. Unter diesem Tarnnamen wurde sie 13-mal ausgiebig vernommen. Die Protokolle gingen als »Dossier X« in die lange Geschichte des Falles Dutroux ein.

Die familiäre Herkunft von Regina Louf passt in zwei Sätze: »Meine Mutter ist von ihrem Vater missbraucht worden, einem Polizeikommissar in Knokke. Ich bin von meiner Mutter vermietet worden, mit Wissen meines Vaters.« Sie wollte ihren eigenen vier Kindern diese Tradition ersparen. Deswegen, sagt sie, habe sie sich den Verhören ausgesetzt: »Der Fluch sollte ein Ende haben.«

In teilweise nächtelangen, alptraumhaften Sitzungen hat X1 den Ermittlern von sadomasochistischen Orgien erzählt, bei denen Kinder gefoltert worden seien, sie hat Orte und Namen genannt. Seit damals, sagt sie, sei sie auch nicht mehr gewachsen.

Die Geschichten der Regina Louf waren in großen Teilen keine Informationen, sondern Bilder, die aus einem Sturm der Gefühle aufblitzen. Verschlüsselte Botschaften aus einer verdrängten Zeit, keinesfalls in sich stimmige Berichte, die man nur zu überprüfen bräuchte.

Doch anders als bei der anonymen Zeugin X3 gab es etwas, was die Ermittler irritierte. Regina Louf beschrieb detailliert einen Sexualmord, der starke Ähnlichkeiten mit dem nie ganz aufgeklärten Tod der Christine Van Hees hatte. Die 16-Jährige war im Februar 1984 verbrannt und gefesselt im Keller einer alten Champignonzucht gefunden worden, nahe der Uni, am Boulevard des Triumphes. X1 konnte den längst abgerissenen Tatort präzis beschreiben und erwähnte Einzelheiten, die nie bekannt geworden waren. Etwa einen Metallstift, der im Handgelenk der Toten steckte.

Als die Vernehmungsprotokolle an die Öffentlichkeit gespielt wurden, sahen sich sowohl Gläubige als auch Ungläubige in ihrer Haltung bestätigt. Regina Louf wurde für die einen zur Mythomanin, für die anderen zur Kronzeugin eines allumfassenden Komplotts. Beide nahmen die Aussagen einer schwer traumatisierten Frau für bare Münze.

»Ich habe ein Gedächtnis. Aber ich bin kein Videorecorder«, sagt sie selbst heute. Vielleicht täusche sie sich in den Daten, vielleicht auch in den Namen. Die bedrohlichen Erwachsenen von damals können in der Erinnerung als prominente Namen von heute daherkommen, als Politiker oder als Prinz. Jeder Erwachsene ist ein Mächtiger für ein wehrloses Kind. Aber im Kern könne sie sich nicht täuschen.

Es kann angenommen werden, dass Regina Louf, alias X1, in ihrer Kindheit Furchtbares widerfahren sein muss, und zwar von den engsten Freunden der eigenen Familie.

Mit dem Fall Dutroux haben ihre Aussagen unmittelbar nichts zu tun, schon weil Louf einen anderen Zeitraum beschreibt. Und die Debatte um die Wahrhaftigkeit der »Dossiers X« hat die Ermittlungen sogar verzögert.

Doch diese Frau hat den Anfeindungen standgehalten und den Blick in eine andere Welt ermöglicht, die auch ohne Dutroux weiter existieren wird. Wo man sich Kinder in der eigenen Familie und im Freundeskreis besorgt, ohne ein sonderliches Risiko eingehen zu müssen. Sie sagt: »Diese Menschen werden Pädophile genannt. Es sind Pädokriminelle. Sie lieben keine Kinder. Sie wissen nur, dass Kinder sich nicht wehren gegen einen Erwachsenen und dass Kindern nicht geglaubt wird.« Es müssen auch keine Politiker, Juristen, Prinzen sein. »Das sind sehr normale, durchaus intelligente Menschen mit guten Manieren und Bausparverträgen.« Keine Monstren.

Die Welt wäre besser, wenn Regina Louf verrückt wäre. Sie ist es nicht.

Jean Nicolas, Michel Nihoul, Regina Louf sind auf ihre jeweilige Art Darsteller in einer unendlichen Geschichte. Verstrickt in ein Netz aus Dossiers, Lügen und gewisperten Halbwahrheiten, aus tiefen Verletzungen und jeder Menge lauterer Überzeugungen. Ein klebriges Netz. Eine funktionierende Justiz müsste es entwirren können. Aber mit jedem Tag, den Marc Dutroux schweigend in seiner Zelle sitzt, Puzzles legt und Geschichte studiert, mit jedem Tag, den der Prozess auf sich warten lässt, wird am Gespinst weitergeknüpft. ALEXANDER SMOLTCZYK

* Jean Nicolas, Frédéric Lavachery: »Dossier Pédophilie. Lescandale de l''affaire Dutroux«. Flammarion, Paris; 400 Seiten; 20Euro.

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