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Indonesiens größte Müllhalde Auf der Kippe

Sie sammeln Abfall, hausen mit ihren Familien in schäbigen Hütten, essen verdorbene Lebensmittel: Rund 6000 Menschen leben und arbeiten auf Indonesiens größter Müllhalde Bantar Gebang. Auf dem, was die Gesellschaft nicht mehr braucht, bauen sie ihre Existenz auf.
Von Simone Utler

Wie eine riesige Kralle greift die metallene Schaufel des Baggers in den Müll und lässt ihn rund 20 Meter weiter oben am Berg krachend fallen. Während Dosen, Schuhe, Knochen und undefinierbarer Abfall noch zu Boden scheppern, stürzen sich schon Dutzende Menschen darauf. Sie tragen runde Körbe auf dem Rücken, T-Shirts oder Caps auf dem Kopf und stochern mit Metallstangen nach dem Müll, den sie behände in ihre Körbe schwingen.

Der Berg bebt. Sieben Bagger schaufeln den Abfall, ihre Motoren dröhnen, dazwischen Rufe. Die Menschen wuseln durch den Müll, nur die Fliegen sind schneller - und mehr. Die Luft flirrt vor lauter schwarzen Punkten. Ein schier unerträglicher Gestank hängt in der Luft, säuerlich, faul, vor allem der Geruch von vergammeltem Fisch ist unerträglich.

Saenah, 45, hat sich zum Schutz vor dem Gestank, dem Dreck und der Sonne ein orangefarbenes T-Shirt um Kopf und Cap gewickelt. In der olivgrünen Hose und dem weiten roten Fußballtrikot ist sie zunächst gar nicht als Frau zu erkennen. Bis zu den Knien sinkt sie bei jedem Schritt ein, mehr als einmal rutscht ihr etwas in einen ihrer schwarzen Gummistiefel. Knapp antwortet sie auf Fragen, sie hat gerade keine Zeit für ein Gespräch. Im Müll zählt jede Minute.

Die Gesichter von Bantar Gebang

Saenah arbeitet in Bantar Gebang, auf der größten Müllhalde Indonesiens. 1990 wurde die Deponie in Betrieb genommen, rund 108 Hektar umfasst das Gelände. Der Großteil des Mülls aus der Zwölf-Millionen-Stadt landet hier. Mehr als 6000 Tonnen sind es jeden Tag, rund 600 Lkw-Ladungen. Stoßstange an Stoßstange stehen die Lastwagen am Fuße der Müllberge, fast rund um die Uhr.

Indonesiens "Recycling-Pioniere"

Schätzungsweise 6000 Menschen sammeln auf den Hügeln Bantar Gebangs Müll, weitere 400 auf der unmittelbar daneben gelegenen Halde Sumur Batu. Scavenger, Lumpensammler, nennen die Menschen in Indonesien sie - oder Recycler. Denn die Menschen in Bantar Gebang sammeln Müll, um ihn zu verkaufen. Jeder hat sein Spezialgebiet. Plastik, Holz, Papier, Glas, Stoff, Metall, Elektroschrott, Spielzeug, aber auch Knochen und vergammelte Lebensmittel. 55 Prozent des Mülls in Bantar Gebang sind organische Abfälle.

"Die Müllsammler sind Indonesiens Recycling-Pioniere", sagt Bagong Suyoto. Der 48-jährige Umweltaktivist lebt mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern unmittelbar vor den Toren des Geländes und engagiert sich mit der von ihm gegründeten NGO Coalition for National Solid Waste, um die Lebensumstände der Müllsammler zu verbessern.

Rund 20 Prozent des Abfalls werden laut Suyoto der Wiederverwertung zugeführt. Der Müll wird sortiert, gesäubert, zerkleinert und zu neuen Produkten verarbeitet. Ihre Not hat die Menschen in Bantar Gebang zu Pionieren gemacht - und eine Lücke in der indonesischen Gesellschaft gefüllt. Indonesien hat ein Müllproblem. Gerade in der Metropolregion Jakarta landet Abfall in Flüssen, im Meer, auf der Straße. Es gibt keine organisierte Recyling-Wirtschaft.

Für einen Löffel nach Bekasi

Saenah sammelt seit 25 Jahren Müll. Ein silberner Löffel brachte sie nach Bantar Gebang. An einem sonnigen Nachmittag bekam die junge Frau Besuch von einer Freundin. Sie setzten sich vor Saenahs Hütte zum Reis Essen zusammen, die Besucherin holte einen Löffel aus der Tasche, so erzählt Saenah. Sie sei beeindruckt gewesen. "So etwas gibt es in Jakarta", sagte die Freundin damals.

Jakarta, das klang für Saenah nach Luxus, nach Freiheit. 17 war sie damals, lebte mit ihrer Mutter im Osten der indonesischen Insel Java, arbeitete auf einer Farm und verdiente kaum genug für die tägliche Portion Reis. Sie träumte von einem besseren Leben, von einem Sarong für gute Tage, von Schmuck, von einem reichen Mann, der ihr all das ermöglichte.

Saenah überredete ihre Mutter, nach Jakarta zu ziehen. Doch statt im pulsierenden und glänzenden Zentrum der Stadt landeten die beiden Frauen in Bantar Gebang. Auch hier pulsiert es, aber es glänzt nichts: Saenah lernte an einer der Kaffeebuden auf der Halde ihren Mann kennen, der ebenfalls Müllsammler ist. Sie brachte ganz in der Nähe fünf Kinder zur Welt, von denen das jüngste im Alter von sechs Monaten nach einem Atemstillstand starb.

Moderne Sklaven

Die Müllsammler von Bantar Gebang leben nur einige hundert Meter neben den Halden. In einfachen Holzhütten, ohne fließend Wasser, Sanitäreinrichtungen, ausreichend Essen.

Fotostrecke

Indonesiens größte Müllhalde: Fliegen, Gestank, Dreck

Foto: Simone Utler

Rasman hat heute seinen freien Tag, den einzigen in der Woche. Zusammen mit seiner Frau seinen beiden kleinen Kindern und seinem Schwiegervater sitzt der 40-Jährige auf der kleinen Holzterrasse vor der Hütte. Direkt neben ihnen liegt ein Berg aus Müll, ein Hahn pickt darin herum, auch hier überall Fliegen.

Früher war Rasman Bauer und baute Reis an. "Damals habe ich aber nur in der Erntezeit etwas verdient, das war zwei bis drei Mal im Jahr. Hier verdiene ich immerhin jeden Tag etwas, auch wenn es manchmal nur 1000 bis 2000 Rupien sind. Hier können wir wenigstens überleben." 1000 Indonesische Rupien sind rund acht Euro-Cent.

Rasman ist ein moderner Sklave. Der Raum, in dem er lebt, gehört seinem Boss, fast ein Dutzend Familien teilen sich eine langgezogene Hütte, jede Einheit ist nur durch eine dünne Holzwand mit einer Tür darin abgetrennt. Rasman muss keine Miete zahlen, im Gegenzug arbeitet er für seinen Boss. Der gesamte von ihm gesammelte Müll geht an den Chef. Wenn Rasman Geld braucht, kann er sich dort etwas leihen. Wie ihm geht es den meisten Menschen in Bantar Gebang.

Globale Krise macht auch vor Müll nicht halt

Die meisten Plastiksammler kommen an einem Tag im Durchschnitt auf rund fünf Körbe Müll, das bringt ihnen rund 20.000 Indonesische Rupien, etwa 1,64 Euro. Das macht bei 28 Arbeitstagen im Monat knapp 46 Euro, der monatliche Mindestlohn in Jakarta liegt bei rund 126 Euro. Eine Plastiktüte bringt 900 Rupien, ein kleines Plastikspielzeug 150. "Die Preise sind aufgrund der Wirtschaftskrise dramatisch gefallen. Teilweise um 60 Prozent", sagt Suyoto. Stabil geblieben seien nur der Wert von Gläsern, Flaschen und Knochen.

Suyoto will den Kindern, die im Schatten der Müllhalde aufwachsen, eine bessere Bildung ermöglichen. Auch wenn es in Indonesien bis zur sechsten Klasse Schulpflicht gibt, schicken nicht alle Menschen in Bantar Gebang ihre Kinder dorthin. Sie brauchen jede Arbeitskraft.

Suyoto bietet den Familien seit 2009 eine Alternative: In seiner "School for Scavenger Kids" gibt es keine Schulpflicht - wenn die Familie mal klamm ist und die Kinder mithelfen müssen, können sie vom Unterricht fernbleiben. Noch werden die rund hundert Schüler in einem Zimmer in Suyotos Haus unterrichtet, aber bald soll ein eigenes Gebäude fertig sein, acht Räume auf zwei Etagen. Das Erdgeschoss steht, wann die nächste Etage kommt, ist unsicher. Das Geld ist knapp.

Essen, was man findet

Saenah macht am Fuß eines Müllbergs eine Pause. Sie hat sich unter eine große Plane gesetzt, greift neben ihren linken Gummistiefel, wo Fliegen um ein paar angefaulte Weintrauben schwirren, nimmt die Trauben in die Hand und schiebt sie sich eine nach der anderen in den Mund. Ja, sie esse immer, was sie finde. Trauben, Zitronen, Mandarinen, auch schon mal eine Handvoll Nasi Goreng. Nein, krank sei sie noch nie gewesen und habe auch keine Angst davor.

"Ich habe mit diesem Leben arrangiert, auch wenn ich mich manchmal betrogen fühle", so Saenah. Noch nie war sie im Zentrum von Jakarta, in der Stadt, für die sie ihre Heimat verlassen hat. Sie hat keine Zeit, kein Geld und viel Angst: "Ich kenne da ja auch niemanden."

Besitzt sie inzwischen Silberlöffel? Saenah lacht und greift schräg hinter sich in eine Plastiktüte. Stolz hält sie einen Alu-Löffel in die Luft. Dutzende habe sie in den vergangenen 25 Jahren gefunden. Immer wenn sie zwölf Stück zusammen hat, verkauft sie sie, 4000 Rupien bekommt sie heute für ein Set, früher waren es mal 6000. Ihren Reis isst sie immer noch mit den Händen.

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