Flüchtlinge aus der Ukraine »Es wird mit zweierlei Maß gemessen«

Ein polnischer Grenzschützer trägt ein ukrainisches Kind
Foto:Markus Schreiber / AP
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SPIEGEL: Frau Hess, Sie sind im Vorstand des Rats für Migration, der die europäische Flüchtlingspolitik immer wieder hart dafür kritisierte, auf Abschottung und Abschreckung zu setzen. Hat Sie die aktuelle Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, überrascht?
Hess: Nein. Ich bin nicht wirklich darüber verwundert, dass Hardliner wie Polen einen Unterschied zwischen Geflüchteten aus ihrem Nachbarland Ukraine machen und jenen aus dem Globalen Süden, also aus Ländern wie Afghanistan, Eritrea oder Somalia. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Für Europäer war Frieden bisher eine Selbstverständlichkeit, das ist nun vorbei. Die EU-Staaten reagieren auf diese neue Situation, denn die Schutzbedürftigen brauchen schnellstmögliche, unkomplizierte Hilfe. Das ist der einzig richtige Weg.
SPIEGEL: Sie sagen, es werde mit »zweierlei Maß gemessen«. Wie meinen Sie das?
Hess: Die europäischen Brüder und Schwestern werden von der polnischen Regierung mit offenen Armen empfangen – und das ist natürlich gut und richtig. Als im Winter aber beispielsweise Tausende Geflüchtete in der Kälte an der polnisch-belarussischen Grenze ausharrten, sah das ganz anders aus. Und das, obwohl etliche von ihnen ebenfalls klassische Kriegsflüchtlinge waren, etwa aus Syrien. An den EU-Außengrenzen werden regelmäßig Menschenrechte missachtet. Es kursieren auch aktuell Geschichten darüber, dass afrikanische Gaststudenten aus der Ukraine aufgrund ihrer Hautfarbe an der polnischen Grenze abgewiesen worden seien. Wir werden also nicht umhinkommen, auch bei diesem Konflikt über Rassismus zu sprechen.
SPIEGEL: In den sozialen Netzwerken läuft die Debatte darüber schon längst. Die Anteilnahme sei im Moment nur deshalb so groß, weil die Ukrainer »weiße, europäische Flüchtende« seien, schrieb eine Antirassismus-Aktivistin auf Twitter. Würden Sie dem zustimmen?
Hess: Ich finde, mit diesem Vorwurf sollte man vorsichtig sein. 2015 war die Anteilnahme in der deutschen Zivilgesellschaft im Hinblick auf die syrischen Geflüchteten sehr hoch. Es war eine politische Entscheidung der damaligen Bundesregierung, irgendwann auf Abschreckung zu setzen. Man saß dem Irrtum auf, die Rechtspopulisten zu schwächen, indem man ihren Diskurs übernahm. Übrigens gab es auch unter polnischen Bürgerinnen und Bürgern viele Ehrenamtliche, die sich für die Menschen einsetzten, die an der belarussischen Grenze ausharrten. Das sollte man nicht unerwähnt lassen.
SPIEGEL: Wo würden Sie dann ansetzen, um über Rassismus zu sprechen?
Hess: Der gesamten weltweiten Flüchtlingspolitik wohnen Diskriminierung und Ungerechtigkeit inne. Schauen Sie doch einmal, mit welchen Mitteln man versucht, Fliehende aus dem Globalen Süden in Massenlagern festzuhalten, damit sie nicht nach Europa gelangen können.
SPIEGEL: Hier lautet die Argumentation häufig, dass es besser sei, die Menschen direkt in der Region zu versorgen.
Hess: Dieses Argument ist für mich nicht schlüssig. Die Welt ist doch längst zu einem globalen Dorf geworden. Europa kann das nicht einfach ignorieren. Wir haben gesehen, wie sich der Bürgerkrieg in Syrien oder die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan direkt auf uns ausgewirkt haben. Was soll mit den Klimaflüchtlingen passieren, die es zunehmend geben wird? Da müsste die Politik vorausschauend planen und die richtigen Weichen stellen. Wer aus dem Globalen Süden stammt, erfährt meist auch durch die weltweite Visapolitik Diskriminierung.
SPIEGEL: Können Sie das genauer ausführen?
Hess: Während Europäer zum Beispiel in viele Staaten weltweit visafrei einreisen können, gilt das für Afrikaner häufig nicht. Bewegungsfreiheit ist sehr ungleich verteilt. Wenn in einem Land Krieg ausbricht, werden oft sofort die Botschaften der westlichen Länder geschlossen, und die Menschen haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, Visa zu beantragen. Sie werden in die illegale Migration gezwungen.
SPIEGEL: Aber wie wollen Sie dieses Problem lösen? Eine visafreie Einreise für alle? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass dann weit mehr Menschen kämen, als die EU aufnehmen könnte.
Hess: Ein Richtungswechsel in der Visa- und Migrationspolitik kann natürlich nicht die alleinige Lösung sein. Das muss auch einhergehen mit einer gerechteren Wirtschaftspolitik und einer nachhaltigen Friedenspolitik.
SPIEGEL: Letzteres dürfte dank Wladimir Putin im Moment schwierig sein.
Hess: Wir sind in der Tat angesichts der derzeitigen Militarisierung und Aufrüstung weit entfernt von einer Welt, die friedlicher wird. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, auch in diesen Zeiten über eine bessere Migrationspolitik nachzudenken. Gerade jetzt gäbe es den Spielraum, weil das Thema akut ist und die EU gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen.
SPIEGEL: Worauf hoffen Sie?
Hess: Bisher scheiterte die dringend nötige Reform des europäischen Asylsystems vor allem daran, dass sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine Verteilung der Geflüchteten einigen konnten. Länder wie Polen oder Ungarn stellten sich einfach quer. Man wird in der EU in diesen Tagen wieder über Kontingente sprechen, dieses Mal für Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Aufnahmebereitschaft ist jetzt hoch. Diese neu gewonnene Solidarität eröffnet die Chance, auch ein grundsätzliches Verteilungsverfahren zu entwickeln, das in Zukunft trägt.
SPIEGEL: Die osteuropäischen Staaten werden vermutlich argumentieren, dass sie ihr Aufnahmesoll durch die ukrainischen Schutzsuchenden bereits übererfüllt haben. Läuft ein mögliches neues Verteilungssystem am Ende dann nicht zwangsläufig darauf hinaus, dass Osteuropa nur christliche, weiße Geflüchtete aufnimmt? Und jene, die aus Syrien, Somalia oder Afghanistan kommen, werden auf Länder wie Deutschland, Frankreich oder Italien verteilt?
Hess: Vielleicht. Aber das ist ja nicht schlimm. Das Dublin-Verfahren, nach dem ein Geflüchteter in jenem Staat Asyl beantragen muss, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat, ist doch sowieso gescheitert. Die Menschen gehen dorthin, wo sie Kontakte haben und somit Unterstützung erfahren und wo sie am liebsten leben möchten. Das denkt man klugerweise mit und bildet die nötigen Aufnahmestrukturen.