Interview mit Rechtsexperten Herz "Jacksons Anwalt hat seine Aufgabe brillant gelöst"

Michael-Jackson-Fans in aller Welt feiern den für viele Beobachter überraschenden Freispruch ihres Idols. Der deutsche Strafrechtsexperte Dietmar Herz erklärt im SPIEGEL-ONLINE-Interview, warum die Geschworenen fair, der Verteidiger brillant und der Staatsanwalt hoch motiviert waren.

SPIEGEL ONLINE:

Hatten Sie mit einem Freispruch Jacksons gerechnet?

Herz: Ja, diese Entscheidung war sehr wahrscheinlich. US-Strafprozesse sind sogenannte agonale Verfahren: Hier kämpfen Verteidigung und Anklage massiv gegeneinander. Das ist nicht zu vergleichen mit deutschen Prozessen, wo ein Richter auf Faktenbasis nach der Wahrheit sucht. Die systematische Demontage von Zeugen ist ganz typisch für das US-Rechtssystem. Dort werden nicht nur der Tathergang, sondern auch die Glaubwürdigkeit und der Charakter der Zeugen in Frage gestellt. Weil eine Jury über den Missbrauchsvorwurf im Fall Jackson entscheiden sollte, hatte Jacksons Anwalt Thomas Mesereau gute Karten. Es ist ihm bestens gelungen, die Zeugen der Anklage als unglaubwürdig darzustellen. Er hat seine Aufgabe brillant gelöst.

SPIEGEL ONLINE: Auch wenn Sie die Fähigkeiten des Strafverteidigers ehrlich bewundern: Meinen Sie nicht, dass die aus sogenannten Normalsterblichen zusammengesetzte Jury mit der Beurteilung eines Mannes wie Jackson überfordert war?

Herz: Nein, das waren sie keineswegs. Schließlich müssen die Geschworenen keine komplizierten juristischen Fragen beantworten, sondern vor allem den Tathergang einordnen und den Charakter der Protagonisten beurteilen.

SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht plumpe Wild-West-Gerechtigkeit, bei der die Stimme des Volkes zu viel Macht erhält?

Herz: Man kann in den Vereinigten Staaten nur von seinesgleichen verurteilt werden - die Vorstellung der Gleichheit spielt im US-Rechtssystem eine viel größere Rolle als bei uns.

SPIEGEL ONLINE: So gleich scheinen sich Geschworene und Angeklagter gerade im Fall des realitätsfernen und ehemals superreichen Jackson allerdings nicht zu sein.

Herz: Sie dürfen nicht vergessen, dass Jury-Mitglieder in der Regel mit großer Vorsicht ausgesucht werden. Das Verfahren ist lang und beide Prozessparteien können ihr Veto gegen bestimmte Kandidaten einlegen. Das ist eine richtige Wissenschaft, mit spezialisierten Anwälten, die den Jury-Anwärtern knifflige Fragen stellen. Da muss man schon sehr gut schauspielern können, um etwa eine einseitige Haltung zu verbergen. Dass die Kandidaten repräsentativ ausgesucht werden und nicht vorbestraft sein dürfen, versteht sich von selbst.

SPIEGEL ONLINE Tun die US-Gerichte sich mit einer Verurteilung von Prominenten schwerer als deutsche oder europäische Gerichte?

Herz: Nein, das tun sie nicht. Zwar handelt es sich bei Jackson um einen überaus prominenten Angeklagten, der weltweit Unterstützung ebenso wie Kritik erfahren und ein mediales Gewitter ausgelöst hat. Seine Bekanntheit hat ihm aber keinen erkennbaren Vorteil verschafft. Jacksons Pluspunkt war, dass er einige der besten Anwälte des Landes beschäftigen konnte: Experten, die mit Psychologen zusammenarbeiten, Medienstrategien entwerfen und sogenannte Schattenjurys aufstellen. Dabei stellen die Anwälte eine der Jury in ihrer Zusammensetzung ähnliche Gruppe zusammen. Diese verfolgt dann die verschiedenen Prozessetappen auf Video und beurteilt unter anderem die Strategie und das Wirken der Verteidigung. Der Anwalt hat dadurch ein ständiges Feedback darüber, wie seine Argumentation ankommt - mit den wirklichen Juroren darf er ja nicht sprechen.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass Anklagevertreter und Verteidiger zu sehr im Rampenlicht stehen und dabei große Schatten auf die eigentlichen Protagonisten werfen?

Herz: Dabei handelt es sich weniger um Selbstverliebtheit als um einen knallharten Kampf um Geld und Macht. Für jeden Staatsanwalt ist so ein Prozess der Fall seines Lebens. Viele Politiker in den USA haben als Staatsanwalt ihre Karriere begonnen - so zum Beispiel der ehemalige Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani. Auch viele Gouverneure kommen aus diesem Bereich. Dementsprechend groß ist das Anliegen der Anklagevertretung, einen solchen Prozess zu gewinnen. Ich war allerdings erstaunt zu sehen, wie unpolitisch der Jackson-Prozess abgelaufen ist. Das mag daran gelegen haben, dass der Angeklagte so bizarr aufgetreten ist, dass man streckenweise den Eindruck hatte, absurdes Theater zu sehen.

SPIEGEL ONLINE: Wie absurd ist denn das alltägliche Prozess-Theater der weniger Privilegierten in den USA?

Herz: Was mich immer wieder erschüttert ist das archaische Rechtsverständnis in den Vereinigten Staaten, vor allem die Todesstrafe. Es ist kein Geheimnis, dass bei vielen Verfahren in den Südstaaten der USA finanziell schlecht gestellte Angeklagte von überarbeiteten, mittelmäßigen Anwälten vertreten werden. Die können ihre Mandanten in der Regel nicht adäquat verteidigen und im Ernstfall erst recht nicht vor der Todesstrafe bewahren. Auch ideologische Komponenten spielen eine Rolle: Wenn in Texas ein mexikanischer Immigrant vor Gericht steht, hat er denkbar schlechte Chancen. Das liegt aber nicht am Rechtssystem, sondern an der sozialen Struktur des Landes.

Das Interview führt Annette Langer

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