
Österreich: Grausiger Verdacht in St. Peter am Hart
Inzest-Verdacht "Sie waren folgsam, ängstlich, brav wie Kinder"
SPIEGEL ONLINE: Frau Professor Perner, Gottfried W. soll seine Töchter 40 Jahre lang gefangen gehalten, sexuell missbraucht und ihnen gleichzeitig erlaubt haben, das Haus zu verlassen. Gewehrt haben sich die Frauen nicht. Welche Rückschlüsse lässt dies auf ihre Persönlichkeiten zu?
Rotraud A. Perner: Die Frauen gelten als geistig behindert. Aus meiner Erfahrung ist die geistige Behinderung, wenn sie nicht organisch bedingt ist, oft die Folge sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Man muss davon ausgehen, dass die beiden vermutlich auf dem seelischen und geistigen Niveau von Volksschulkindern sind. Das bedeutet, sie sind folgsam, ängstlich, brav wie Kinder und wollen gelobt werden. Sie kennen keine Alternative zu dem Leben, zu dem sie gezwungen werden.
SPIEGEL ONLINE: Die Frauen sind zwischen 45 und 53 Jahre alt. Der Missbrauch begann also offenbar zu einer Zeit, in der dieses Thema tabu war.
Perner: Richtig. Männer, die das taten, waren Perverslinge, mehr nicht. Diese Männer agierten nach dem Motto: "Mit meinem Kind mache ich, was ich will." Solche Gewalttäter bauen sich zu Hause ein regelrechtes Schreckensregime auf. Ein Entkommen ist dann oft unmöglich.
SPIEGEL ONLINE: Warum haben sich die Frauen dann nach 40 Jahren gewehrt?
Perner: Wir wissen nicht, wie ihr Wehren davor ausgesehen hat. Eine der beiden soll den 80-jährigen Vater gestoßen haben, er stürzte, konnte nicht mehr alleine aufstehen. Wir wissen nicht, wie oft sie ihn schon weggeschubst haben. Ein 80 Jahre alter Mann stürzt anders als ein junger. Hinzu kommt: Je isolierter die Familie lebt, desto gehorsamer und eingeschüchterter sind die Opfer.
SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielte die inzwischen verstorbene Mutter in diesem Gefüge?
Perner: Sie wird wie viele Mütter reagiert haben: Sie resigniert vor dem Gewalttäter, versucht zu gehorchen. Wir Psychoanalytiker sprechen in solchen Fällen von der Identifikation mit dem Aggressor, man stellt sich hinter den Täter, um aus der Schusslinie zu sein. Möglicherweise war sie auch ein missbrauchtes Kind. Woher sollte sie auch wissen, wie man sich gegen einen solchen Peiniger wehrt? Es gehört viel Mut und Verzweiflung dazu, den "Familienernährer" anzuzeigen - und andere Alternativen kennen die wenigsten.
SPIEGEL ONLINE: In St. Peter am Hart leben 2400 Menschen. Wie realistisch schätzen Sie es ein, dass die Bewohner von dem Inzest nichts mitbekommen haben?
Perner: Verbrechen geschehen fast immer geheim. Es hängt von den Sozialkontakten ab, die ein Täter hat. Viele vermeiden solche gezielt, daher sind Inzestfamilien meist geschlossene Systeme, in die keiner hinein und niemand hinaus darf. Für Mitarbeiter von Ämtern wird eine Fassade aufgebaut. Beratungsstellen werden nicht einbezogen, weil viele Betroffene nicht wissen, dass es sie gibt oder sie auch zu weit weg sind.
SPIEGEL ONLINE: Unklar ist, ob die Frauen in den vergangenen 40 Jahren schwanger waren. Ist es möglich, dass sich der 80-Jährige um die Verhütung gekümmert hat?
Perner: Es kommt darauf an, in welcher Form der sexuelle Missbrauch stattgefunden hat. Sehr viele Männer penetrieren ihre Opfer oral und anal, nur selten führen sie den vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Sexualberaterin weiß ich, dass Analverkehr die klassische Verhütungsmethode war in früheren Jahren. Als Aids aufkam, kamen viele Frauen zu mir, die zwischen 70 und 90 Jahre alt waren, hatten Angst, sich infiziert zu haben, weil ihre Männer auf Analverkehr bestanden.
SPIEGEL ONLINE: Anders als in Amstetten oder im Fall Natascha Kampusch waren die Frauen zu zweit. Inwieweit hat dies die Situation beeinflusst?
Perner: Wenn sie keine Streitschwestern sind, sondern ein halbwegs gutes Verhältnis zueinander haben, hat ihnen das sicher geholfen, das Erlebte zu bewältigen. Sie wie Geschwister, die regelmäßig verprügelt werden. Sie werden auf mögliche Penetrationen so reagiert haben, wie ein Kind, das man zwingt, etwas zu essen, was es partout nicht mag. Sie werden eingetrichtert bekommen haben, dass sich das so gehört, auch wenn die Ekelreaktion meist funktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Und die treibt nicht zur Flucht an?
Perner: Die Täter geben dem Opfer die Schuld. Kinder, die beispielsweise verprügelt werden, denken: "Ich hab doch gar nichts getan, warum passiert mir das?" Ihnen wird eingetrimmt: "Du warst böse." Und so ist es auch beim Missbrauch. Sie akzeptieren die Schuldzuweisung.
SPIEGEL ONLINE: Die Opfer werden momentan abgeschottet. Wie hoch ist die Chance, dass sie eines Tages wieder ein "normales" Leben führen können?
Perner: Schon hoch, wenn ihre Anonymität gewahrt bleibt. Sie müssen dringend abgeschirmt und intensiv betreut werden und sie brauchen Ruhe und Akzeptanz. Sie müssen ja ihre Kindheit, ihre Jugend nachholen. Das kann man gut, wenn man sie therapeutisch gezielt die Natur, die Tier- und Pflanzenwelt erfühlen lässt, die ja auch zeigt, wie man Unbill vieler Art überlebt. Keinesfalls sollte man sie in eine Einrichtung für Behinderte abschieben.
Das Interview führte Julia Jüttner.