Irische Traveller Ein Leben am Straßenrand
Dublin - Seit sechs Monaten lebt Michael Mongan auf einem öffentlichen Parkplatz in Tallaght, im Süden Dublins - illegal. Nur drei Meter von seinem Caravan entfernt ist ein grüner Metallzaun in den Boden gerammt. An den Stäben hängen ein paar schwarze Jeans und zwei T-Shirts zum Trocknen. Aus einem schwarzen Schlauch, der aus der Erde ragt, sprudelt Wasser - die Dusche. Spanplatten lehnen am Zaun - die Toilette.
Thomas Rattigan hat sein eigenes Dixie-Klo. Rund acht Kilometer von Michael Mongans Camp entfernt steht das blaue Häuschen unmittelbar neben seinem Wohnwagen. Dahinter ist ein Wasserhahn in eine Mauer einbetoniert, neben diesem steht ein Feuerlöscher in einem Glaskasten. Nur einige Meter entfernt rasen Autos und Lastwagen auf der Schnellstraße N81 von Dublin in Richtung Südwesten. Vorbei am "Temporary Residential Caravan Park", den zeitlich befristeten Lagerplatz, auf dem Thomas Rattigan seit drei Monaten wohnt.
Wie Michael Mongan weiß Thomas Rattigan nicht, wie lange er bleiben wird. Beide sind Traveller - irische Nomaden. Die Wurzeln ihrer Vorfahren reichen mehrere Jahrhunderte zurück: Im 17. Jahrhundert verjagte Oliver Cromwell Tausende irischer Bauern. Die meisten starben oder mussten nach Amerika auswandern. Die übrigen kramten Hab und Gut zusammen, packten alles auf einen Pferdewagen und flohen.
Später reisten die Traveller von einer Grafschaft zur nächsten, bauten Wasserkessel und flickten Teekannen, schliffen Scheren, schmiedeten Hufeisen und handelten mit Pferden. Sie erzählten den Bewohnern der Dörfer Märchen, sangen Volkslieder oder verrieten ihnen den neusten Klatsch.
Mit rund 30.000 Angehörigen sind die Traveller heute die größte Minderheit Irlands. Die meisten von ihnen sind junge Leute: Nach einer Studie des irischen "Economical and Research Institute" wird nur ein Prozent der Traveller älter als 65 Jahre. 80 Prozent der irischen Nomaden sind jünger als 25, jeder zweite ist noch keine 15 Jahre alt. Wie Michael Mongan leben etwa 1200 Familien illegal am Straßenrand - ohne Strom, fließendes Wasser und sanitäre Anlagen. Rund 2000 Familien haben wie Thomas Rattigan zeitlich befristet einen Platz auf einer öffentlichen Lagerstelle ergattert.
Auf einem kargen Acker hinter Michael Mongans Stellplatz türmen sich ausgeleierte Matratzen, kaputte Waschmaschinen und ausrangierte Sofas. Mongan steht vor einem weißen Mercedes 207 Transporter. Über seinen dicken Bauch spannt sich ein grünes Polo-Shirt. Das Gesicht ist kugelrund mit einem kleinen Bärtchen am Kinn und über der Oberlippe. In seinen rundlichen Fingern hält Michael Mongan eine Feile und schabt Rost vom Kotflügel des Autos.
Sein Vater sei ein "tinsmith" - ein Zinnmeister gewesen, erzählt der 51-Jährige. Er brachte ihm bei, wie Milchkannen und Wasserkessel gemacht werden. Zur Schule ist Michael Mongan nie gegangen, lesen und schreiben hat er bis heute nicht gelernt. Noch vor zwanzig Jahren zog Michael Mongan als Kupferschmied mit seiner Frau und den zwölf Kindern durch Irland.
Doch nachdem das Plastik auch die entlegensten Dörfer und Gemeinden erobert hatte, gab Michael Mongan sein Handwerk auf und verscherbelte sein Werkzeug. Eine Zeit lang versuchte er sich noch als Kaminfeger und handelte mit Schrott. Weil das aber nicht reichte, um eine Großfamilie durchzufüttern, beantragte Mongan Sozialhilfe.
Keiner seiner Söhne sei ein Kupferschmied, sagt Michael Mongan mit trauriger Stimme. Seine samtigen braunen Augen wandern von links nach rechts. Am Fahrbahnrand stehen acht Caravans dicht aneinander gereiht. Sie gehören seinen Söhnen und Töchtern. Teller, Tassen und Gläsern stapeln sich auf der Ablage hinter dem Fenster eines Wohnwagens.
"Das ist meine Frau Mary-Ellen", sagt Michael Mongan und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf eine Frau in langem schwarzen Rock und blau-weiß gestreiften T-Shirt. Klein und rundlich steht die 49-Jährige auf den Holzplanken, die auf dem Erdboden vor den Wohnwägen ausgebreitet sind. Lesen Sie auch den zweiten Teil
Es ist Sonntagmittag. Thomas Rattigan muss nicht arbeiten und in wenigen Stunden wird er in dicke Tortenstücke beißen und Sekt schlürfen. Party ist angesagt. Der Rattigan-Clan hat Männer und Frauen, Kinder und Alte aus allen Teilen Irlands zusammengetrommelt. Bald werden sie mit ihren Caravans in Fingles, einem Vorort Dublins, eintreffen, um den 40. Geburtstag von Thomas Rattigans Bruder John zu feiern.
Thomas Rattigan hat sich ein frisch gewaschenes hellgrünes Hemd übergestreift, das Gesicht ist glattrasiert und duftet nach Aftershave. Sein vierjähriger Sohn Thomas Junior weigert sich, Hosen anzuziehen. Nur mit einem roten T-Shirt bekleidet flitzt er über den ordentlich gekehrten Betonboden.
Thomas Rattigan sagt, er sei Traveller, weil man beim Reisen "interessante Leute" kennenlerne. Er sei "angestellt", könne lesen und schreiben - und seine Kinder sollten dies auch lernen. Ehefrau Kathleen bürstet Tochter Fallon das Haar. Die Siebenjährige geht in die zweite Klasse. Alle paar Monate, wenn die Familie von einem Stellplatz zum nächsten zieht, wechselt sie die Schule.
Zwar gibt es in Irland zwei Schulen speziell für Traveller-Kinder und eine davon liegt in Dublin, nur wenige Kilometer vom Stellplatz der Rattigans entfernt. Doch Fallons Klassenkameraden sind Mädchen und Jungen, deren Familien einen festen Wohnsitz haben. Zusammen brüten sie über kniffligen Rechenaufgaben, lesen Märchen und freuen sich, wenn die Pausenglocke schellt.
So gut wie Fallon geht es den wenigsten Traveller-Kindern. Thomas Rattigans Nichte Shannon spritzt den Betonboden noch einmal mit einem Wasserschlauch ab. Wie viele Traveller haben Shannons Eltern nie eine Schule von innen gesehen. Ihre Tochter haben sie nicht zum Unterricht geschickt. Im Training Center in Tallaght Village lernt die 15-Jährige nun, wie "curriculum" - Stundenplan - geschrieben und akzentfrei gesprochen wird. Denn wie früher sprechen die Traveller auch heute noch vor allem "Gammon" oder "Shelta", eine aus dem Gälischen abgeleitete Geheimsprache.
In der Schule werden die Traveller-Kinder deshalb oft von Klassenkameraden gehänselt. Michael, ein Nachbarsjunge, geht in die fünfte Klasse der St. Ann's School in Tallaght und sitzt dort in der letzten Reihe - alleine. In der Pause beschimpfen ihn seine Klassenkameraden, weil sie glauben, dass er Pferde tötet und im Dreck wühlt.
Erwachsenen Travellern geht es nicht viel besser: Wie eine von der irischen "Citizen Traveller Campaign" in Auftrag gegebene Umfrage ermittelte, würden 70 Prozent der Iren nicht akzeptieren, wenn ihr Freund ein Traveller wäre. In Supermärkten werden die irischen Nomaden oft verdächtigt, gestohlen zu haben. Wollen sie in Pubs ein Bier bestellen, kann es passieren, dass der Kellner antwortet: "Traveller bedienen wir nicht."
Die irische Regierung versprach nach der Veröffentlichung eines Berichts einer "Task Force" im Jahre 1995 binnen fünf Jahren rund 2200 neue Stellplätze zu errichten. Bislang wurden jedoch lediglich 111 gebaut. Mit einem Gesetz namens "trespass law" will die irische Regierung nun sogar verhindern, dass Traveller ohne festen Stellplatz weiter durch Irland tingeln und in Wohnwagen am Straßenrand nächtigen: Parkt Michael Mongan sein Heim künftig länger als 24 Stunden auf privatem oder öffentlichen Gelände, muss er 3000 Euro Strafe zahlen oder ins Gefängnis.
Michael Mongan klettert in seinen Wohnwagen setzt sich auf das Sofa am hinteren Ende. Süßlicher Tabakgeruch liegt in der Luft. In der Schlafnische im vorderen Teil scheitelt Mary-Ellen Mongan ihr braunes Haar und steckt es mit einer Nadel hoch. In einem Glaskasten über dem Sofa stehen gerahmt die Hochzeitsfotos: Die 20-Jährige Mary-Ellen in weißem Spitzenkleid Hand in Hand mit ihrem zwei Jahre älteren frischgetrauten Mann Michael. Auf einem Sideboard stehen Madonnen-Figuren und ein Bild von Padre Pio und anderen Heiligen. Auf einem schwarz-weiß-Foto an der Wand sitzen zwei Enkel in Jeans und Karo-Hemd im Stroh.
Mit dem rechten Zeigefinger deutet Michael Mongan auf ein Bild von einem alten Planwagen. "Noch vor 35 Jahren bin ich mit meinen Eltern auf einem Pferdewagen durch Irland gefahren", sagt er und blickt aus dem Fenster auf die Zufahrt des Parkplatzes. "In 20 Jahren wird es uns nicht mehr geben."