
Verschwundenes Flugzeug: Rätsel um Flug MH370
Jahrestag des Malaysia-Airline-Unglücks Wo ist MH370?
Am schlimmsten ist es für die Angehörigen. 153 der 239 Passagiere von MH370 waren Chinesen, und wahrscheinlich dürfen ihre Hinterbliebenen am Sonntag, dem Jahrestag des spurlosen Verschwindens der Maschine, noch nicht einmal wie geplant vor der malaysischen Botschaft in Peking demonstrieren. Wegen der gleichzeitigen Jahrestagung des Volkskongresses sei die Polizei derzeit sehr streng. Um Repressalien zu entgehen, wird das Gedenken an die Verschwundenen wahrscheinlich im Stillen geschehen müssen.
Den Deckmantel des Schweigens über die Geschichte ausbreiten, das würde wahrscheinlich auch die Regierung Malaysias gerne, die seit nunmehr einem Jahr nicht nur von Angehörigen der Passagiere heftig kritisiert wird. Steve Wang aus Peking, laut "New York Times" ein inoffizieller Sprecher der betroffenen chinesischen Familien, beklagt, dass die malaysischen Behörden mit den Angehörigen nur noch über Schadenersatz-Summen reden wollten, nicht mehr über Aufklärung: "Ich kann nicht glauben, dass es nach 9/11 möglich ist, dass ein großer Jet ein ganzes Land überfliegt ohne entdeckt zu werden", sagte Wang der US-Zeitung , "die Regierung Malaysias hat uns vom ersten Tag an belogen. Ich will die Wahrheit, Kompensationszahlungen sind mir egal!"
Was geschah am 8. März 2014?
Am 8. März 2014 gegen 1:21 Uhr morgens verlässt die Boeing 777 mit der Kursnummer MH370 den malaysischen Luftraum. Der Linienflug von Kuala Lumpur soll wenige Stunden später in Peking enden, doch schon bei der Luftsicherheit Vietnams, die über dem Golf von Thailand von Malaysia übernahm, tauchte das Passagierflugzeug nicht mehr auf. Seitdem fehlt jede Spur von MH370: Es gibt keine Trümmer, keine Wrackteile, nichts. Nur Spekulationen und Theorien, die meisten davon irre, keine plausibel. Im Januar ließ Malaysia die 227 Passagiere aus 15 Nationen samt der zwölf Besatzungsmitglieder offiziell für tot erklären.
Es werde dennoch weiterhin alles versucht, um die Hintergründe des Unglücks aufzuklären, sagte Malaysias Verkehrsminister Liow Tiong Lai am Samstag in Kuala Lumpur. Zum Jahrestag des Unglücks will das internationale Ermittlerteam zudem über neueste Erkenntnisse informieren. Mitarbeiter dämpften allerdings bereits im Vorwege Erwartungen. Der Zwischenbericht soll am Samstag auf der Webseite der zuständigen Behörde hochgeladen werden.
Vier Schiffe, 60.000 Quadratkilometer
Zurzeit suchen vier Schiffe mithilfe eines Spezialecholots den Meeresboden im südlichen Indischen Ozean ab, wo MH370 auf Basis sogenannter Satelliten-Handshake-Daten verortet wird. Das insgesamt 60.000 Quadratkilometer große Gebiet südwestlich von Australien soll bis Mai durchkämmt werden, teilweise in nahezu unerreichbaren Tiefen von bis zu 4500 Metern. Sollte dieser Einsatz ergebnislos bleiben, müssten erneut alle verfügbaren Daten analysiert werden, um die Suche neu auszurichten, erklärte Verkehrsminister Liow.

Unterwasser-Topografie: 60.000 Quadratkilometer Ozean vor Australiens Küste
Foto: ATSB/ Geoscience AustraliaEine für alle Beteiligten erschöpfende Angelegenheit: Am Donnerstag hatte Australiens Regierungschef Tony Abbott angedeutet, dass der Einsatz in den kommenden Monaten womöglich zurückgefahren wird. Er könne nicht versprechen, dass die von seinem Land koordinierte Suche "in dieser Intensität für immer andauern wird".
Am Samstag demonstrierte sein Stellvertreter Warren Truss jedoch Zuversicht: "Unsere Entschlossenheit, Antworten zu finden, ist unerschütterlich", sagte er. Irgendwann wird es jedoch auch eine Frage des Geldes sein, ob weitergesucht wird oder nicht. Schon jetzt dürfte mehr als das Doppelte der ursprünglich veranschlagten 40 Millionen Dollar in den Einsatz der Spezialkräfte geflossen sein, es ist die teuerste und aufwendigste Rettungs- und Bergungsaktion in der Geschichte der modernen Luftfahrt.
Was weiß man, was weiß man nicht?
Und das größte Mysterium obendrein. Denn auch nach einem Jahr weiß man nicht, was am 8. März an Bord von MH370 geschehen ist, wieso das Flugzeug von allen Radarschirmen verschwinden konnte, warum es offenbar eine Kehrtwende machte und über Malaysia in Richtung indischer Ozean flog, bevor der Kontakt komplett abriss.
Die Annahme, dass die Boeing dort zu finden ist, beruht jedoch allein auf den Kommunikationsprotokollen der britischen Firma Inmarsat. Zu deren Satellit "Inmarsat-3F1" hatte MH370 trotz abgeschalteter Funk- und Ortungssysteme zuletzt einmal pro Stunde Kontakt. Auf Grundlage dieser "Handshakes" berechneten die Ermittler die wahrscheinliche Flugroute. Die Suche konzentriert sich daher auf den sogenannten siebten Bogen , ein Tausende Kilometer langes Teilstück eines gedachten Kreises, in dem sich die Maschine beim letzten "Händeschütteln" der GPS-Satelliten befunden hat.

Inzwischen wachsen bei Beobachtern die Zweifel: "Da man entlang des siebten Bogens bisher rein gar nichts entdeckt hat, wäre es an der Zeit, diese Theorie auf den Prüfstand zu stellen", sagte Jan-Arwed Richter vom Flugunfallbüro JACDEC in Hamburg im Dezember zu SPIEGEL ONLINE, "alles, wirklich alles, was sich nach 1:21 Uhr ereignet hat, ist Theorie, Spekulation, Gerücht, Märchen." Ähnlich sah es bereits im Oktober 2014 auch Tim Clark, Chef der Fluggesellschaft Emirates, der im Interview sagte: "In der Geschichte der zivilen Luftfahrt hat es (...) nicht einen einzigen Unfall über Wasser gegeben, der nicht wenigstens zu fünf oder zehn Prozent nachvollziehbar gewesen wäre. MH370 dagegen ist einfach verschwunden. Für mich ist das verdächtig."
Tatsächlich ist es erstaunlich, dass weder die malaysische, noch die indonesische Luftraumüberwachung Alarm schlug, als MH370 seinen nordöstlichen Kurs verließ und nach Südwesten über das Festland Malaysias abdrehte, unter anderem in die grobe Richtung der Militärbasis Penang. Erst Tage nach dem 8. März gab das Militär des Landes zu, ein nicht identifiziertes Flugzeug über der Halbinsel per Radar geortet zu haben. Kampfflugzeuge, wie bei Überflügen von Irrläufern üblich, wurden nicht losgeschickt, eigentlich ein Routinevorgang seit dem 11. September 2001.
Der Pilot war's. Aber wie? Und warum?
Die indonesische Luftwaffe bestreitet, in der fraglichen Nacht irgendetwas Ungewöhnliches beobachtet zu haben , und die vietnamesische Luftraumüberwachung hat rund 20 Minuten lang nicht einmal gemerkt, dass ein Flugzeug fehlt. Kopfzerbrechen bereitet den Experten zudem die Tatsache, dass es an Bord von MH370 offenbar gelungen ist, nicht nur den Transponder abzuschalten, mittels dessen die Flugsicherung Flugzeuge per Sekundärradar identifizieren und verfolgen kann, sondern auch das weitaus komplizierter zu deaktivierende ACARS-System, mit dem vom Boden aus Flugzeugsysteme und Triebwerksleistung überwacht werden können.
Die populärste Theorie ist zurzeit die, dass der erfahrenere der beiden Piloten, der damals 52 Jahre alte Kapitän Zaharie Ahmad Shah seinen Kollegen mit Schlafmittel im Kaffee betäubt und sodann Besatzung wie Passagiere mittels Sauerstoffentzug in Tiefschlaf versetzt hat, während er selbst eine Atemmaske aufsetzte. Aber selbst wenn man diese hanebüchene Geschichte glaubt: Was mag Shahs Motiv gewesen sein?
Kaum verwunderlich, dass sich inzwischen Verschwörungsszenarien um MH370 ranken. Mehrere Bücher sind erschienen, ein Film ist in Planung. Mal wurde die Boeing bei einer Militärübung versehentlich abgeschossen, mal von Außerirdischen entführt, mal ereilte sie dasselbe ominöse Schicksal wie Flug Oceanic 815 aus der TV-Serie "Lost" , mal war's "Cyberhijacking" per Fernsteuerung von Hackern, mal hatte Wladimir Putin seine Finger im Spiel.
Das alles hilft den Angehörigen der Passagiere von MH370 nicht weiter, im Gegenteil, sie müssen hilflos mitansehen, wie die Suche mehr und mehr ins Leere läuft und das Schicksal ihrer Liebsten zum Bestandteil einer zunehmend irren popkulturellen Erzählung wird. Man kann nur hoffen, dass möglichst bald doch noch Wrackteile aus den Tiefen des Ozeans auftauchen, an denen sich ihre Trauer endlich manifestieren und schließlich, allmählich, in Akzeptanz auflösen kann.