Putin-Kritik vor laufender Kamera "Mich lädt keiner mehr ins russische Fernsehen ein"

James Kirchick im russischen Fernsehen: "Ich nehme mir zwei Minuten"
Foto: YouTube/ Russia TodayMit seiner Guerilla-Performance während eines Interviews hat US-Journalist James Kirchick die regierungstreuen Moderatoren des russischen Fernsehsenders RT vorgeführt. Ursprünglich hatte man den 30-Jährigen zum Gespräch über den WikiLeaks-Informanten Bradley Manning gebeten. Doch kaum auf Sendung, ließ Kirchick seine regenbogenfarbenen Hosenträger knallen und kam zur Sache.
Er wolle nicht über Manning, sondern über das Gesetz gegen Anti-Schwulenpropaganda unter Minderjährigen reden, so Kirchick. Auf einem Propaganda-Sender wie RT müsse er darauf hinweisen, dass das Gesetz Homosexuelle kriminalisiere, Gewalt und Hass gegen sie befördere. Und dass es "von Ihrem Zahlmeister Putin eigenhändig unterzeichnet wurde".
Die vollkommen überforderte Moderatorin Julia Schapowalowa hatte keine Chance, den Redefluss des Journalisten zu unterbrechen. "Sie haben 24 Stunden am Tag Zeit, über die Vereinigten Staaten Lügen zu verbreiten", schimpfte Kirchick. "Ich nehme mir meine zwei Minuten, um über das Gesetz zu reden."
Moderator Ivor Crotty zeigte sich sichtlich nervös. Bevor er das Gespräch abbrach, wies er seinen Gesprächspartner säuerlich darauf hin, dass der Sender erst vor kurzem einen interessanten Beitrag zu dem Thema gesendet habe, den er sich gern auf YouTube anschauen dürfe. In der Sendung hatte RT unter anderem eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Lewada vom April präsentiert, wonach 43 Prozent der Russen der Meinung sind, Homosexualität sei eine Perversion oder eine schlechte Angewohnheit. Weitere 35 Prozent sind überzeugt, es sei eine Krankheit.
Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt Kirchick, wie es zu dem Auftritt kam. Dabei zeigt sich der Yale-Absolvent als konservativer Amerikaner: Eigentlich habe er bei seinem Auftritt auch über Edward Snowden reden, habe aussprechen wollen, "dass Moskau einem amerikanischen Verräter Unterschlupf gewährt hat. Denn nichts anderes ist er."
SPIEGEL ONLINE: Herr Kirchick, haben Sie Ihren wilden Auftritt beim russischen Sender RT geplant, oder war das eine spontane Eingebung?
Kirchick: Das war geplant. Ich habe mehrfach gefragt, ob wir auch wirklich live auf Sendung gehen, damit man mich später nicht rausschneiden kann. Normalerweise würde ich nie in diesem Programm auftreten. Am Abend davor bin ich durch Stockholm gelaufen und habe verzweifelt nach einer Regenbogenfahne oder einem anderen Accessoire gesucht, das garantiert unter das Anti-Schwulen-Propaganda-Gesetz von Putin fällt. In einem kleinen Laden habe ich dann die bunten Hosenträger gefunden.
SPIEGEL ONLINE: Ist diese Art von Anarcho-Interview die einzige Form, mit der man im russischen Fernsehen noch für die Rechte der Schwulen eintreten kann?
Kirchick: Es ist auf jeden Fall sehr positiv aufgenommen worden. Ich habe viel Unterstützung weltweit erfahren und kann nur jedem empfehlen, es mir nachzutun, sollte er zum Interview gebeten werden. Man muss dem Publikum und den Leuten, die da arbeiten, klarmachen, dass sie für eine Diktatur arbeiten.
SPIEGEL ONLINE: RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan hat beteuert, "wenn Russland Krieg führt, ziehen wir mit in die Schlacht". Wie abhängig ist der Kanal von der Regierung?
Kirchick: Es gibt keinen Zweifel, dass RT zu 100 Prozent von der Regierung kontrolliert wird. Manchmal gibt man sich mild kritisch, aber im Kern wird dort Putineske Propaganda betrieben. Eine zynische, sehr elaborierte Form von Propaganda. Der Erfolg von RT beruht darauf, dass er sich kultiviert und fortschrittlich gibt. Das gefällt jungen Leuten, die den Proletarierkult der Vergangenheit gründlich satt haben. Man darf den Einfluss des Senders nicht unterschätzen, er hat Millionen von Zuschauern und mehr als eine Milliarde Zugriffe bei YouTube.
SPIEGEL ONLINE: Der schwule britische Schauspieler und Autor Stephen Fry hat in einem offenen Brief dazu aufgerufen, die Olympischen Winterspiele in Sotschi wegen der Diskriminierung von Homosexuellen zu boykottieren. Putin stemple die Schwulen zu Sündenböcken, genau wie es Hitler mit den Juden gemacht hat, sagte er. Fry hat Ihnen via Twitter zu Ihrem Mut und Ihrer Leidenschaft gratuliert.
Kirchick: Frys Lob hat mich sehr stolz gemacht. Und er hat recht. Wenn Sie in dem Gesetz zur Unterbindung sogenannter schwuler Propaganda unter Minderjährigen "homosexuell" durch "jüdisch" oder "afroamerikanisch" ersetzen würden, dann gäbe es einen Aufschrei in der Welt. Bei Schwulen wird offenbar immer noch mit anderen Maßstäben gemessen.
SPIEGEL ONLINE: Außenminister Guido Westerwelle findet die Idee eines Boykotts der Olympischen Spiele "kontraproduktiv". Sind Sie für einen Boykott?
Kirchick: Nicht zwingend. Aber das Olympische Komitee sollte auf jeden Fall formellen Protest einlegen gegen das Anti-Schwulen-Gesetz. Es geht ja hier nicht nur um Menschenrechte und Politik, sondern auch um die Sicherheit der Teilnehmer und Besucher von Sotschi.
SPIEGEL ONLINE: Sie hatten nur knapp zwei Minuten Zeit, sich bei RT auszulassen. Was hätten Sie noch gesagt, wenn man Sie nicht unterbrochen hätte?
Kirchick: Ich hätte Freiheit gefordert für Pussy Riot, für Michail Chodorkowski und alle politischen Gefangenen im Land. Ich hätte über die Rolle Russlands im Syrien-Konflikt gesprochen und über die Besetzung Georgiens.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie schon Pläne für einen weiteren derartigen TV-Auftritt?
Kirchick: Nein, ich befürchte, aus Russland lädt mich keiner mehr ein.