»Judensau«-Streit vor Gericht Kirche hält an Skulptur fest – und argumentiert mit »zeitlichem Trennungsstrich«

»Judensau«-Relief an der Wittenberger Stadtkirche: »Entsorgung der Vergangenheit«?
Foto: Hendrik Schmidt/ dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Im Streit über eine »Judensau«-Darstellung aus dem 13. Jahrhundert an der Fassade der Stadtkirche im sachsen-anhaltischen Wittenberg wehrt sich die verklagte Kirchengemeinde gegen die geforderte Demontage. Ein »verantwortungsbewusster Umgang mit der Vergangenheit« könnte der Argumentation des Klägers zufolge »nur noch im Wege der vollständigen Entsorgung der Vergangenheit stattfinden«, schreibt die Anwältin der evangelischen Gemeinde in ihrer Revisionserwiderung, die dem SPIEGEL vorliegt.
In dem Fall geht es um eine Skulptur aus dem 13. Jahrhundert, an deren antisemitischer Obszönität kein Zweifel besteht: Das an der Fassade des Gotteshauses angebrachte Sandsteinrelief zeigt, wie ein Rabbiner einem Schwein in den Anus schaut, während andere Juden an den Zitzen des Tieres trinken. In der christlichen Kunst des Mittelalters verkörperten Schweine den Teufel, im Judentum gelten sie als unrein.
Der in Bonn lebende Rentner Michael Düllmann fordert seit Jahren die Entfernung des Reliefs von der einstigen Predigtkirche Martin Luthers. Als Jude fühle er sich davon verunglimpft. Sein Anwalt hebt »die besondere Schwere der Beleidigung« durch die »Judensau« hervor.
Die Gegenseite verweist darauf, dass eine Informationstafel den historischen Kontext erkläre. Bei einer mehr als 700 Jahre alten Schmähskulptur scheine es kaum möglich, »die Verbundenheit einer davon betroffenen Gruppe abzuleiten«. Vielmehr stelle sich die Frage, ob »ein zeitlicher Trennungsstrich zu ziehen ist«, da es sich »nur noch um einen geschichtlichen Vorgang« handle.
Aus dem Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg
Mehrere Gerichte gaben bislang der Kirchengemeinde recht, zuletzt das Oberlandesgericht Naumburg in Sachsen-Anhalt. »Das Zurschaustellen des Reliefs wäre bei isolierter Betrachtung nach heutiger Wertvorstellung als Beleidigung von Juden zu werten«, hieß es im Urteil. Allerdings müssten auch »die konkreten Umstände« berücksichtigt werden: Weil die »Judensau« über einem Mahnmal hängt, sei sie »Teil einer Gedenk- und Erinnerungskultur«.
Düllmann, den diese Argumentation empört, war persönlich im Januar 2020 zu der mündlichen Verhandlung nach Naumburg gereist und hatte vor Gericht eine emotionale Rede gehalten. Es sei ein Skandal, sagte er, dass das Relief noch immer an der Kirche hänge. Das Judentum werde damit diffamiert, die Plastik symbolisiere den Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft. Zudem sei eine Beleidigung auch dann eine Beleidigung, wenn sie kommentiert werde.
Die Naumburger Richter sahen das anders, attestierten dem Fall jedoch eine »grundsätzliche Bedeutung«: An vielen Kirchen in Deutschland gibt es solche judenfeindlichen Darstellungen. Der Bundesgerichtshof verhandelt die Sache am 30. Mai.