Amoklauf Die Todesnacht von Lörrach

Amoklauf: Die Todesnacht von Lörrach
Foto: dapdHamburg - Das Ehepaar S. sitzt in seinem Wohnzimmer in der Markus-Pflüger-Straße im baden-württembergischen Lörrach, als am Sonntag, kurz nach 18.30 Uhr, ein lauter Knall das Haus erschüttert. "Ich dachte, da kommt ein Flugzeug runter", erinnert sich Gerlinde S. Sie blickt aus dem Fenster und sieht, wie "Gegenstände und Glassplitter durch die Luft fliegen", wie Anwohner aus dem Nachbargebäude rennen. Sie glaubt an eine Gasexplosion, schlüpft eilig in ihre Schuhe und läuft mit ihrem Mann aus dem Haus.
Auf der Straße lautes Geschrei, es wimmelt vor Feuerwehrleuten und Polizisten, es herrscht Chaos. "Bringen Sie sich in Sicherheit, hier rennt jemand mit einer Maschinenpistole herum!", ruft ein Beamter dem Ehepaar zu. Gerlinde und Hans-Peter S. verharren einen Moment lang, da kommt eine Frau aus dem gegenüberliegenden St. Elisabethen-Krankenhaus gelaufen und ruft: "Die Person befindet sich in Zimmer 107!"
Erst langsam begreifen Gerlinde und Hans-Peter S., dass sie Augenzeugen eines Amoklaufs sind. Mitten in ihrem beschaulichen 48.000-Einwohner-Städtchen. Die Markus-Pflüger-Straße, keine fünf Gehminuten vom Zentrum entfernt, ist Kulisse für Blaulicht und Sirenengeheul, Tod und Zerstörung. Das Erdgeschoss in Hausnummer 22 ist total verwüstet.

Lörrach: Die Taschen voller Munition
Gerhard R., ein anderer Nachbar, ist bei Verwandten, zwei Straßen entfernt. "Selbst dort hat man die Detonation gespürt. Ich dachte, das ist ein Erdbeben, die Türen haben im Rahmen gewackelt", erinnert er sich. Nach Hause, zurück in seine Wohnung, darf er zunächst nicht. Inzwischen sind rund 300 Polizisten und Rettungskräfte im Einsatz.
Das Ehepaar S. kommt bei seiner Tochter in der Nähe unter. Gegen 22 Uhr dürfen sie wieder zurück in ihre Wohnung, längst wissen sie, was sich im Nachbarhaus zugetragen hat: Sabine R. lief Amok. Zuerst tötet sie in ihrer Wohnung in der Hausnummer 22 ihren Ehemann, der sich vor mehreren Wochen von ihr getrennt haben soll, und den gemeinsamen fünf Jahre alten Sohn.
Der Pfleger in der Gynäkologie - ein "Zufallsopfer"
Anschließend stürmt Sabine R. nach Polizeiangaben über die Straße zum St. Elisabethen-Krankenhaus - bewaffnet mit einem Messer und einer kleinkalibrigen Pistole .22, wie sie Sportschützen benutzen. Als solche hatte sich Sabine R. ausbilden lassen, besaß nach Angaben von dpa legal mehrere Waffen.
Vor der Klinik schießt sie um sich, trifft zwei Passanten. "Eine Person wurde durch einen Kopfstreifschuss, eine weitere im Rücken getroffen und schwer verletzt", sagte ein Polizeisprecher.
"Gezielt" sei Sabine R. danach in die gynäkologische Abteilung im ersten Stock des Krankenhauses gelaufen. Dort sei sie auf einen Pfleger losgegangen, der gerade die Tabletts vom Abendessen in einen Wagen schob. Ihn habe sie mit einem Messer attackiert und mehrmals in den Kopf geschossen, der 56-Jährige starb. Laut Staatsanwaltschaft kannte Sabine R. ihr Opfer nicht.
Die Polizei hat die 41-Jährige inzwischen orten können. Im ersten Stock kommt es zu einem heftigen Schusswechsel zwischen Sabine R. und Polizeibeamten. Einer von ihnen wird schwer am Knie verletzt. Die 41-Jährige wird von den Beamten tödlich getroffen, sie stirbt nach Angaben der Staatsanwaltschaft auf dem Klinikflur im ersten Stock. Warum sie gezielt diesen Bereich des Krankenhauses aufgesucht hatte, sei bislang nicht geklärt, so der Polizeisprecher.
Ebenso unklar ist, ob ein Sorgerechtsstreit Auslöser der Bluttat war. Das werde derzeit geprüft, sagte der Sprecher.
Geklärt ist hingegen, dass Sabine R. ihren Ehemann und den gemeinsamen Sohn vor der Explosion tötete. Demnach erschoss sie den 44-Jährigen mit der Sportwaffe. Wie der Sohn zu Tode kam, ist noch unbekannt. Die Leichen der beiden waren nach dem Brand in den Räumen der Kanzlei gefunden worden, nachdem das Feuer dort gelöscht worden war. Eine Nachbarin will drei Schüsse gehört haben, danach den lauten Knall der Explosion.
"Regelmäßig gab es bei der Übergabe Streit im Hausflur"
"Die Explosion in dem Mehrfamilienhaus wurde höchstwahrscheinlich durch einen Brandbeschleuniger ausgelöst", sagte Oberstaatsanwalt Dieter Inhofer SPIEGEL ONLINE. Entsprechende Kanister seien im Büroraum der Wohnung sichergestellt worden. Sachverständige des Landeskriminalamtes untersuchen die Details.
Die Detonation war so heftig, dass eine Wand aus dem Haus herausgerissen wurde. 15 Personen wurden durch Rauchgasvergiftungen verletzt. Im vierten Stock standen Bewohner auf den Balkonen: "Das Treppenhaus ist total verqualmt, wir können nicht über den Hausflur nach unten", hätten sie gerufen, erinnert sich Gerlinde S. Sie seien schließlich über das rückwärtige Gebäude mit Hilfe einer Drehleiter gerettet worden. Die Feuerwehr rettete aus dem brennenden Haus sechs Erwachsene und ein Kind.
Sabine R. war erst vor wenigen Wochen in eine Erdgeschosswohnung in der Markus-Pflüger-Straße 22 gezogen, hatte an der Außenwand ihr Büroschild für ihre Kanzlei anbringen lassen. Laut Bundesrechtsanwaltskammer war sie erst seit Dezember 2009 als Rechtsanwältin tätig.
Hans-Peter S., ein Bewohner aus Hausnummer 20, lernte die Juristin kennen, als er vor Wochen am Garagentor hantierte. Höflich habe sie gefragt, ob sie sich ihm vorstellen dürfe. "Eine aufgeschlossene, sympathische Frau", erinnert sich auch Karl A. Auch ihm habe sich die 41-Jährige vorgestellt. "Keine Selbstverständlichkeit in einem drei Häuser großen Wohnblock mit insgesamt 52 Wohnungen."
Das Kind lebte beim Vater, den Nachbarn erzählte Sabine R. das Gegenteil
Sie habe auch erzählt, dass sie mit ihrem Sohn allein lebe. Ihre Kanzlei habe sie deshalb direkt bei ihrer Wohnung, um als alleinerziehende Mutter die Betreuung besser zu koordinieren. "Nach unserer Erkenntnis lebte der Sohn bei seinem Vater und war am Sonntag nur zu Besuch bei seiner Mutter", sagte Oberstaatsanwalt Inhofer. Das Motiv für die Tat sieht er im "persönlichen Bereich".
Direkte Nachbarn wollen mehrfach lautstarke Auseinandersetzungen zwischen Sabine R. und dem von ihr getrennt lebenden Ehemann gehört haben. "Regelmäßig gab es bei der Übergabe des Kindes Streit im Hausflur", sagten mehrere Bewohner SPIEGEL ONLINE.
Inwieweit hatte Sabine R. die Tat geplant? Woher stammten die Waffen? Warum tötete die Juristin den Pfleger? Weitere Einzelheiten zu der Tat und zu den Ermittlungen wollen Polizei und Staatsanwaltschaft am Montagnachmittag bekanntgeben.
Der Tatort, speziell die gynäkologische Abteilung sowie die Wohnung und Kanzlei der Juristin, bleibt auch am Montag abgesperrt. Ein Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes, Seelsorger und Psychologen sind vor Ort.
"Wir sind schockiert über diese Schreckenstat", sagt Gerlinde S. "Und gleichzeitig überlegen wir, was noch alles hätte passieren können. Hier spielen so viele Kinder, hier leben so viele Menschen."
Lörrach sei "fassungslos", sagte auch Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm bestürzt über die Tat. Die Einsatzkräfte hätten Schlimmeres verhindern können. Auch die erfahrenen unter den Helfern und Beamten zeigten sich von dem Amoklauf aufgewühlt. "Wir konnten Schlimmeres verhindern, ja, aber der Pfleger ist dennoch gestorben", sagt ein Polizeisprecher. "Der geht morgens zur Arbeit, um zu helfen wie wir, und kommt einfach nimmer heim."