Blutiger Bandenkrieg in Amsterdam "Schießen, um zu überleben"

In der Amsterdamer Unterwelt tobt ein brutaler Konflikt rivalisierender Banden. Mehr als 20 Menschen wurden auf offener Straße erschossen. Nun gab es einen weiteren Fall - mitten in einem Wohnviertel. Die Polizei scheint machtlos.

Kinder spielten auf dem Schulhof, als zur Mittagszeit Schüsse fielen. Manche sagen, mindestens siebenmal habe es geknallt. Andere sprechen von 15 Schüssen. Mitten in einem Wohnviertel bei Amsterdam wurde am Dienstag ein Mann erschossen.

Es ist der jüngste Mord einer ganzen Serie in Amsterdam. In den vergangenen Jahren wurden mehr als 20 Menschen erschossen. Ein undurchsichtiger, brutaler Konflikt rivalisierender Banden tobt in der Stadt. Die Polizei scheint macht- und ratlos, denn die Morde hören nicht auf.

Um zwölf Uhr am Dienstag wurden die Schüsse in der J. Kruijverstraat in Zaandam gemeldet, einem Vorort im Norden Amsterdams. Ein Mann sei am Tatort gestorben, heißt es in einer kurzen Polizeimeldung . Die mutmaßlichen Täter seien in einem braunen oder Leber-farbenen Lieferwagen verschwunden. Ein lokaler Fernsehsender  zeigte ein Foto der Szene, offenbar aufgenommen von Schülern einer Grundschule, die von ihrem Klassenzimmer auf die Straße blicken.

Auf dem Bild ist eine schwarz gekleidete Person mit Turnschuhen zu sehen, die eine Kalaschnikow auf jemanden richtet, der am Rand der schmalen Straße auf dem Pflaster liegt. Inzwischen scheint klar, dass es sich bei dem Opfer um Lucas B. handelt, einen 43 Jahre alten prominenten Berufskriminellen aus Amsterdam, genannt Puk. Er galt als einer der letzten Vertrauten von Willem "die Nase" Holleeder, der seit der Entführung des Bier-Magnaten Alfred Heineken 1983 als Promi in der niederländischen Medienwelt noch immer Klatschblätter füllt und im Fernsehen auftritt.

Morden, bevor man selbst ermordet wird

Im vergangenen Jahr war B. zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er über den Hafen von Antwerpen 128 Kilo Kokain eingeschleust hatte. Er soll außerdem an mehreren Auftragsmorden beteiligt gewesen sein, die ihm aber nie nachgewiesen werden konnten. Nun wurde er selbst erschossen.

Die Ermordung B.s ist damit wohl ein weiterer Fall mysteriöser Exekutionen, die es seit April 2012 in Amsterdam gab. Damals verschwand im Hafen von Antwerpen offenbar eine Ladung Drogen und löste einen Konflikt rivalisierender Banden aus. Anfangs wurde der Streit vor allem unter Marokkanern ausgetragen, inzwischen sind auch türkische Gangs und andere Gruppen beteiligt. Schon lange gehe es aber nicht mehr um die verschwundenen Drogen, sagte Oberstaatsanwalt Theo Hofstee im Dezember der Nachrichtenagentur ANP. Inzwischen seien neue Konflikte entstanden, bei denen die Zusammenhänge nicht immer klar seien. "Wir können die Exekutionen nicht logisch erklären", sagte Hofstee .

Seit dem Interview im Dezember wurden mindestens neun weitere Menschen erschossen, zuletzt am 13. Mai und am 26. April. Marijn Schrijver, ein Journalist, der zum Bandenkrieg recherchiert, sagt: "Es geht ums Schießen, um zu überleben." Wer bleibt am Ende übrig, wer bekommt die Macht, wer die besten Drogen? Geschossen wird deshalb offenbar auch präventiv: Morden, bevor man selbst ermordet wird.

150 Ermittler im Einsatz

Das macht die Taten unvorhersehbar. Für die Polizei, aber auch für Bürger. Die Auftragsmörder seien Anfänger ohne viel Erfahrung, meist Anfang oder Mitte 20. "Deshalb gehen die Kugeln in alle Richtungen", sagte Schrijver dem Sender NOS . "Es macht ihnen nichts aus, wenn dabei Unschuldige getroffen werden."

Je länger die Mordserie andauert, desto mehr Unbeteiligte werden zu Opfern. Bei den Ermittlungen in der Vergangenheit fand die Polizei bereits Kugeln im Fensterrahmen einer Kindertagesstätte. Im Januar wurde eine 60 Jahre alte Frau erschossen, als sie beim Rauchen auf ihrem Balkon in Amsterdam Nieuw-West stand. Die Polizei geht davon aus, dass ihr Schwiegersohn hätte getroffen werden sollen. Im vergangenen Jahr war bereits ein völlig unbeteiligter, 30 Jahre alter Mann erschossen worden. Er hatte offenbar nur das gleiche Auto gefahren wie das vorgesehene Opfer - eine fatale Verwechslung.

Die Polizei hat inzwischen 150 Mitarbeiter für die Ermittlungen abgestellt. Sie können die Exekutionen nicht vorhersehen oder vereiteln. Deshalb haben die Behörden eine neue Strategie begonnen: Sie wollen die illegalen Aktivitäten stoppen und die Netzwerke auflösen. Erst am Samstagabend stürmte die Polizei drei Cafés, die als Treffpunkt von Kriminellen galten. 16 Personen wurden festgenommen .

Den Mord am Dienstag konnte die Razzia trotzdem nicht verhindern.

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