Angeklagter in Terrorprozess »Hä? Geht's hier nicht ums Mittelalter?«

Zwölf mutmaßliche Rechtsterroristen sollen Anschläge in Deutschland geplant haben. Einer von ihnen arbeitete in der Verwaltung eines Polizeipräsidiums – er schildert seine Teilnahme an den Treffen als großes Missverständnis.
Von Julia Jüttner, Stuttgart
Angeklagter Thorsten W.: Vor Gericht bekennt er sich zur demokratischen Grundordnung, doch die Ermittlungsergebnisse zeigen ein anderes Bild

Angeklagter Thorsten W.: Vor Gericht bekennt er sich zur demokratischen Grundordnung, doch die Ermittlungsergebnisse zeigen ein anderes Bild

Foto: Pool / Getty Images

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Thorsten W. fühlt sich unwohl, man sieht es ihm an. Als mutmaßlicher Rechtsterrorist hockt er, versunken in einem khakifarbenen Anorak, in einem Kasten aus Panzerglas. Der Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart auf dem Gelände des Hochsicherheitstraktes in Stammheim wurde gebaut für Verfahren, in denen die Angeklagten als staatsgefährdende Gewalttäter oder Mitglieder verbotener Vereinigungen gelten. Hier herrscht höchste Sicherheitsstufe.

Mit W. angeklagt sind weitere elf Männer, alle mutmaßlichen Mitglieder der »Gruppe S.« Ihnen wirft die Bundesanwaltschaft genau das vor: die Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung, illegalen Waffenbesitz und die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten.

Nach Ansicht der Ankläger ging von dem rechtsgesinnten Dutzend eine reale Terrorgefahr aus: Auf Ansage des mutmaßlichen Rädelsführers Werner S., 54, und seines treuesten Gehilfen Tony E., 40, soll die Gruppe Anschläge auf Politiker, Asylsuchende und Muslime geplant haben, um möglichst viele Menschen zu töten und einen Bürgerkrieg zu entfachen.

Vorwürfe, die W. ungern auf sich sitzen lassen will. Und so legen ihm zwei Justizbeamte Handfesseln an und lotsen ihn aus dem Glaskasten in den Zeugenstand, wo W. seinen Anorak auszieht, seine FFP2-Maske abnimmt und auspackt. Glaubt man W., sitzt er zu Unrecht auf der Anklagebank, und alles ist ein großes Missverständnis.

Gefallen an germanischen Kostümen

Bis zu seiner Verhaftung lebte W. in einer festen Beziehung, er ist geschieden, Vater einer fast 15-jährigen Tochter und Besitzer des kleinen Waffenscheins. Er arbeitete als Beamter im Polizeipräsidium Hamm für ein Nettogehalt von etwa 3000 Euro, zuletzt als Regierungsamtsinspektor im Verkehrskommissariat, zuständig für Verkehrsordnungswidrigkeiten. Er führte ein beschauliches Leben, das er zu vermissen scheint.

Ausgerechnet sein Hobby soll ihn in die Bredouille gebracht haben: W. pflegt einen Hang zu nordischem Brauchtum. Er gefällt sich in Kostümen germanischer Krieger und postete entsprechende Fotos von sich in einem Internetforum.

Auf einem Mittelaltermarkt auf Fehmarn, so erzählt W., lernte er im Juli 2017 Thomas N. aus Minden kennen. Der 57-jährige Fliesenleger sitzt auch auf der Anklagebank im Glaskasten. Die beiden freundeten sich in jenem Sommer an, hielten sporadisch Kontakt und trafen sich in den folgenden Jahren auf verschiedenen Veranstaltungen zum Thema Mittelalter.

»Die sind politisch so drauf wie wir«

Im Oktober 2019 lud N. seinen Kumpel W. in die Chatgruppe »Heimat« ein, in der auch die anderen Angeklagten Teilnehmer gewesen sein sollen. Da gehe es ums Mittelalter, habe ihm N. versprochen, sagt W. Und: »Die sind politisch so drauf wie wir.« Was genau das bedeutete, erklärt W. nicht. Er betont aber, er habe N. als »besonnen und vernünftig« eingeschätzt.

N. habe ihn schließlich zu einem Treffen der Gruppe eingeladen, bei sich zu Hause in Minden. Er habe dieses Treffen am 8. Februar 2020 als »Mittelaltertreffen« verstanden, sagt W., als geplanten »Zusammenschluss verschiedener Mittelaltergruppen«. N. habe angekündigt, die anderen Gäste seien Mitglieder bei »Wodans Erben Germanien«, »Vikings Security Germania« und der »Bruderschaft Deutschland«. Es handelt sich dabei um rechtsextreme, gewaltbereite Gruppierungen.

W. will bei den Namen »ans Mittelalter« gedacht haben. »Für mich sind das klar nordische Darstellungen«, sagt er. In der Mittelalterszene seien solche Namen »völlig normal«. Ob er sie nicht mal gegoogelt habe, will der Vorsitzende Richter wissen. Ja, habe er, sagt W., allerdings nach dem Treffen am 8. Februar 2020. »Hätte ich mal früher gucken sollen, dann wäre ich da garantiert nie hingefahren.« Immerhin sei er seit 30 Jahren im öffentlichen Dienst tätig. »Ich stehe zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung unseres Staates!«

Ein Ausspruch, der den Ermittlungsergebnissen deutlich widerspricht. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft ist W. ein Anhänger der »Identitären Bewegung«, rechtsradikal gesinnt.

»So was wie in Christchurch?«

Bei jenem Treffen in Minden habe ihm N. seine Mittelalterwaffen gezeigt, berichtet W. im Gericht. Das habe andere Teilnehmer gelangweilt. Nach und nach seien die Mitglieder der Chatgruppe eingetrudelt, er habe außer N. keinen von ihnen gekannt und sich ausgeschlossen gefühlt. Nach einem gemeinsamen Mittagessen habe der angeklagte Werner S. eine Vorstellungsrunde eröffnet.

Der ebenfalls angeklagte Paul-Ludwig U. habe geprahlt, er habe 20 Jahre seines Lebens im Knast gesessen. »Ich dachte: Hä? Geht's hier nicht ums Mittelalter?«, sagt W. im Gericht. Er habe sich damals vorgestellt mit den Worten: »Ich bin Thorsten, 50 Jahre, und komme aus Hamm. Mein Hobby ist das Mittelalter und Fotografieren, und ich bin im öffentlichen Dienst.« Mit seinem Arbeitgeber hätten einige in der Runde ein Problem gehabt, man habe deshalb abgestimmt und ihn schließlich geduldet.

Erst nach der offiziellen Kennenlernrunde seien »rechte Unmutsäußerungen« gefallen, die ihn verwundert hätten, behauptet W. Auch sei es um Demonstrationen, Geld und Waffen gegangen. An Details könne er sich nicht erinnern.

Als es auf einmal um Anschläge auf Moscheen gegangen sei, will W. gefragt haben: »So was wie in Christchurch?« Dort starben im März 2019 bei einem Terroranschlag auf zwei Moscheen 51 Menschen, 50 weitere wurden verletzt. Die Gruppe habe seine Frage mit Schweigen quittiert. W. will nachgehakt haben: »Euer Ernst? Lasst das!« Wieder: keine Reaktion.

Danach will W. nur noch »Stimmengewirr« wahrgenommen und den nächsten Moment genutzt haben, um abzuhauen. »Das ist mir zu heftig, ich will mit dem Quatsch nichts zu tun haben«, habe er N. mitgeteilt und sei ins Auto gestiegen. »Ich war total aufgewühlt.«

Damals hatten die Fahnder die Männer bereits im Visier. Sie haben W.s Lebenslauf, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben dokumentiert: 2009 erkrankte er an Depressionen, er ließ sich stationär behandeln, suchte Hilfe in Gesprächstherapien und Halt im Cannabisrausch. Bei der Durchsuchung seines Zuhauses fanden Beamte mehr als 170 Gramm Marihuana und 15 fertige Joints.

In seiner Freizeit liest W. demnach die rechte Zeitschrift »Junge Freiheit«, ist Mitglied des »Freundeskreises der Truppenkameradschaft der 3. SS-Panzer-Division Totenkopf e.V.« und verherrlicht das NS-Regime und Adolf Hitler. In W.s Wohnung fand man zwei Ausgaben von »Mein Kampf«, Modellflugzeuge mit Hakenkreuzen und NS-Devotionalien.

»Rigorose Wende«

Unter seinem Profil »Thor Tjark ton Rungholt« schrieb W. in ein Mittelalterforum: »Wir müssen von Zeit zu Zeit Terroranschläge verüben, bei denen unbeteiligte Menschen sterben.« Dadurch lasse sich der gesamte Staat und die gesamte Bevölkerung »lenken«. »Das primäre Ziel eines solchen Anschlages sind nicht die Toten, sondern die Überlebenden, denn die gilt es zu lenken und zu beeinflussen.«

Es sind Ermittlungsergebnisse, die bei der Einordnung von W.s Zeugenaussage dienlich sein könnten: Im Gericht räumt W. ein, er habe mit N. auch »über Politik geredet und sich kritisch geäußert«. Politik sei ein weites Feld, konstatiert der Vorsitzende Richter. »Alltägliches eben«, entgegnet W.

Den Ermittlungen zufolge soll W. in einem Telefonat mit N. betont haben, es brauche »zeitnah« eine »rigorose Wende«; er wolle seiner Tochter nicht »so einen Scherbenhaufen« hinterlassen. Auch soll er nach dem Treffen in Minden N. via Telegram geschrieben haben, er wolle erst mal »andere Wege auf metapolitischer Ebene gehen«.

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