Aufarbeitung an Odenwaldschule "Ich wurde erzogen, mit Erwachsenen ins Bett zu gehen"

Es sind Stunden der Wahrheit an der Odenwaldschule. Der legendäre, schwer belastete Ex-Schulleiter Gerold Becker ist gestorben, kurz bevor eine Wahrheitskommission Missbrauchsopfer und Täter zusammenbringen wollte - und all jene Lehrer, die angeblich nichts wussten. Die Geschichte eines pädagogischen Dramas.
Odenwaldschule in Hessen: Wie weiter?

Odenwaldschule in Hessen: Wie weiter?

Foto: Marius Becker/ dpa

Es war ein pubertäres Wortspiel - aber ein Alarmsignal? Ein Warnschrei?

Irgendwer hat in den siebziger Jahren das Schild auf der hügeligen, malerischen Zufahrtsstraße nach Ober-Hambach zur Odenwaldschule verhunzt. "Hodenwaldschwule" stand da beinahe ein ganzes Jahr lang.

Das war nicht wirklich lustig, aber auch nicht wirklich beängstigend. Wer würde wegen zwei hinzugefügter Buchstaben gleich den Verdacht schöpfen, dass an der Schule Ungeheuerliches vor sich geht?

Dann war da der Holzphallus. Schüler rammten ihn 1975 in die Wiese vor Gerold Beckers Büro auf dem Schulgelände. Er ließ ihn umgehend entfernen.

Dann waren da die Schüler, die "Der Be-ecker, der Be-ecker, der findet kleine Jungs le-ecker" sangen.

Dann war da der Lehrer, der Karneval 1973 zum Anlass nahm, um in einer Büttenrede von "Heldenleben mit Kindertotenliedern" zu schwadronieren. Eine Anspielung auf das Geschehene oder Vermutete als Gag. Der Mann wurde danach wochenlang von den Kollegen rund um den schwer belasteten Musiklehrer Wolfgang Held nicht mehr gegrüßt.

Wenn man heute, knapp vier Jahrzehnte später, von all den scheinbaren Scherzen hört, wirken sie nicht mehr komisch. Nicht mehr wie ein alberner Jungenwitz, wie jugendlicher Übermut, wie eine lapidare Bemerkung. Heute ist es eine Gewissheit, dass mindestens 13 unterschiedliche Täter an der Odenwaldschule weit mehr als 50 Schülerinnen und Schüler über Jahrzehnte sexuell missbraucht haben. Der Holzpenis, der Karnevalsklamauk, das geschnitzte H, das W: Nun provozieren sie Fragen.

Welche Erfahrungen haben jene Schüler gemacht, die damals das Liedchen über Becker sangen, die auf der Wiese vor seinem Büro das Zeichen setzten?

Welche Verantwortung hatte zum Beispiel ein Lehrer, der die bösen Geschichten aus den Kinderbetten in eine humorigen Karnevalsrede packte - und sonst nichts unternahm oder unternehmen konnte?

Wer wusste was von all den Dingen, die sich hier unter dem Deckmantel der Reformpädagogik abspielten?

Das Programm: Kaffee, Kuchen und Aufarbeitung

Die Odenwaldschule begeht dieser Tage ihr 100. Jubiläum, aber sie feiert nicht, sie stellt sich diese Fragen. Es sind Gedenktage im Zeichen der Aufarbeitung, keine Festtage. Der neue Schulvorstand und die Schulleiterin Margarita Kaufmann, seit 2007 im Amt, wollen es so. Und so gibt es nun Kaffee und Kuchen wie bei jedem Schulfest, aber das Programm kreist um das Thema Missbrauch, mit Vorträgen, Ausstellungen, Installationen.

Höhepunkt der Auseinandersetzung: die Einrichtung einer Wahrheitskommission nach dem Vorbild Südafrikas. In dem Staat ermöglichten solche Foren nach dem Ende der Apartheid einen Austausch zwischen Tätern und Opfern - unabhängig von der juristischen Ahndung der Vorfälle, aber unter Einbeziehung pensionierter Richter oder anderer Rechtsexperten. Die Odenwaldschule übernahm das Modell, um sich dem Thema Wahrheit zu nähern.

Auf dem Podium: zwei Opfer, ein früherer Lehrer der Schule, ein Psychologe, der Sprecher des Vorstands, eine pensionierte Richterin und ein Strafverteidiger. In ihre Diskussion sollte das Publikum einbezogen werden, all die ehemaligen Lehrer und Altschüler, die man zum Jubiläum erwartete. Die Hoffnung war, dass sich einige Beschuldigte zu Wort melden. Johannes von Dohnanyi und Adrian Körfer, beide Altschüler und Vorstandsmitglieder, hatten alle 13 mutmaßlichen Täter angeschrieben und eingeladen. Ihr Hausverbot wurde für diesen Abend aufgehoben. Keiner antwortete.

Gerold Becker erwarteten die Organisatoren gar nicht. Der Mann, der als einer der Haupttäter gilt und als Schulleiter die Einrichtung bis 1985 prägte, war schwer krank, litt unter einem Lungenemphysem - in der Nacht zu Donnerstag dann starb er in Berlin. Kurz bevor die Odenwaldschule ein Signal für die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit setzen wollte. Einer Vergangenheit, die untrennbar mit der sexualisierten Gewalt in der Ära Becker verknüpft ist.

"Ich bedauere, dass Gerold Becker nicht lange genug gelebt hat"

Das Phantom Becker war es dann auch, das an diesem Freitagabend in der drückend heißen Theaterhalle die Debatte der Wahrheitskommission dominierte. Nur der Ex-Schulchef könne "die Odenwaldschule von der Last seiner Verbrechen befreien und damit die Zeit der Aussöhnung einleiten" - und so auch "sein Lebenswerk als bemerkenswerter Pädagoge retten", hatte Dohnanyi in seinem Aufsatz für den Jubiläumsband geschrieben. Vorbei. Becker nimmt die Antworten nun mit ins Grab. Dohnanyi: "Ich bedauere, dass Gerold Becker nicht lange genug gelebt hat, um den Mut zu finden, doch noch etwas zu sagen."

Die Wahrheit derjenigen, die die Verbrechen begangen haben, die am schwersten belastet wurden - man wird sie an der Odenwaldschule wohl nie mehr herausfinden. Becker ist jetzt gestorben, Held schon 2006.

Was bleibt, ist die Wahrheit der Opfer. Sie äußert sich an diesem Freitagabend in Sätzen wie: "Ich bin so erzogen worden, mit einem Erwachsenen ins Bett zu gehen, das war ganz normal."

Und: "Ich bin täglich von Becker angegangen worden. Als 13-Jähriger bin ich nachts davon aufgewacht, dass mich Becker am Schwanz lutscht."

Anwesend waren auch jene Opfer, die schon vor zwölf Jahren versucht haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie wandten sich damals erst an die Schule, schließlich an die Presse, aber sie bekamen kaum Unterstützung. Sie waren es, die im vergangenen Jahr die Debatte noch einmal anstießen. "Wir haben längst eine dreistellige Opferzahl erreicht, und jeder weiß es", sagte an diesem Freitag einer von ihnen. Nur sind viele Betroffene so geschädigt, dass sie sich nicht an die eigens beauftragten Juristinnen wenden können.

"Das konnte doch niemand ahnen"

Die Odenwaldschule war eine Institution, die fast ein Jahrhundert lang als reformpädagogische Eliteeinrichtung gefeiert wurde - und deren Korpsgeist zu einer besonderen Isolation gegenüber der Außenwelt führte. Ihre Lage, abgeschieden im Wald, steht fast sinnbildlich für die Abschottung des Geschehenen von der Außenwelt. Begünstigt wurde die Isolation durch ausgeprägtes Elitebewusstsein. Wie sehr, das machten an diesem Freitag Lehrer klar, die mit und unter Becker arbeiteten. Sie litten unter seiner Sprunghaftigkeit. Zugleich verehrten ihn viele als charismatischen Pädagogen.

Mädchen und Jungen, die missbraucht wurden, vertrauten sich diesen Lehrern an, das ist bekannt. Doch vor der Wahrheitskommission wirkt es, als hätte es keine Offenbarungen, keine Hinweise gegeben.

"Es tut mir unendlich leid, aber ich kann mich nicht mehr erinnern", sagt einer, als er mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, nichts unternommen zu haben.

Und jener Pädagoge, der 1973 die Büttenrede vom "Heldenleben mit Kindertotenliedern" gehalten hat, sagt, er habe vom Missbrauch damals nichts gewusst.

Wenn, dann hätten die Wortwitze seinem Unterbewusstsein entstammen müssen, fügt er hinzu. Man solle ihm doch sein Unterbewusstsein lassen.

Es ist seine Wahrheit.

Anmerkung der Redaktion: Ein ehemaliger Lehrer der Odenwaldschule hat darum gebeten, ein Zitat von sich aus einer früheren Version dieses Artikels zu entfernen. SPIEGEL ONLINE kommt dem Wunsch nach.

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