Prozess gegen Auschwitz-Wachmann Späte Reue

Angeklagter Reinhold Hanning
Foto: Bernd Thissen/ dpa"Ich habe mein Leben lang versucht, diese Zeit zu verdrängen. Auschwitz war ein Albtraum. Ich wünschte, nie dort gewesen zu sein": Diese Worte stammen nicht von einem Opfer, das den Horror des Konzentrationslagers überlebt hat. Sondern von einem mutmaßlichen Täter, dem früheren SS-Wachmann Reinhold Hanning. Er ist im Detmolder Auschwitz-Prozess wegen Beihilfe zu allen Morden angeklagt, die während seiner Dienstzeit in dem KZ verübt wurden.
Seit Prozessbeginn hatte der 94-Jährige geschwiegen, kaum eine Regung gezeigt, nur selten den Blick gehoben. Auch nicht, als Zeugen ihre Erlebnisse in der Hölle Auschwitz schilderten und sich direkt an ihn wandten.
Nun doch Stellung zu nehmen, sei dem Angeklagten ein persönliches Bedürfnis gewesen, sagte Verteidiger Johannes Salmen. Nachdem er im Namen Hannings eine 20-seitige Erklärung verlesen hatte, ergriff der Angeklagte selbst das Wort. Der 94-Jährige zog einen gefalteten Zettel aus der linken Innentasche seines Sakkos und las mit dünner, hoher, aber fester Stimme ab.
"Ich möchte Ihnen sagen, dass ich zutiefst bereue, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben, die für den Tod vieler unschuldiger Menschen, für die Zerstörung unzähliger Familien, für Elend, Qualen und Leid auf Seiten der Opfer und deren Angehörigen verantwortlich ist.
Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe. Ich entschuldige mich hiermit in aller Form für mein Verhalten. Es tut mir aufrichtig leid."
Damit hat Hanning mehr gesagt als viele andere, die wegen ihrer Arbeit in Auschwitz angeklagt wurden. Ist es genug?
"Der Tod hat in diesem Bericht nicht stattgefunden"
"Als ich mehrere Wochen in Auschwitz war, war mir bekannt, was dort mit den Häftlingen geschah", heißt es in der Erklärung, die Verteidiger Salmen vortrug. "Es wurden Menschen erschossen, vergast und verbrannt. Ich konnte sehen, wie Leichen hin- und hergefahren oder abtransportiert wurden, ja, das bekam man mit." Er habe auch gewusst, dass Leichen verbrannt worden seien.
Hanning spricht viel über Auschwitz, aber er berichtet vor allem Altbekanntes. Er spricht vergleichsweise wenig über sich selbst, über seine Rolle in dem Lager, seine Gefühle angesichts all des Horrors.
Der Holocaust-Überlebende und Nebenkläger Leon Schwarzbaum, 95, hatte schon am ersten Verhandlungstag an den Angeklagten appelliert: "Herr Hanning, wir sind fast gleich alt. Bald stehen wir vor unserem höchsten Richter. Sprechen Sie darüber, was sie erlebt haben!"

Auschwitz-Überlebender Leon Schwarzbaum
Foto: POOL/ REUTERSSchwarzbaum hatte dabei wohl kaum eine Erklärung wie die verlesene im Sinn. "Ich akzeptiere, dass er sich entschuldigt hat. Aber er hätte mehr erzählen müssen, was in Auschwitz passiert ist", sagte Schwarzbaum nach der Verhandlung. Das sei ihm wichtiger als eine Haftstrafe. Schwarzbaums Anwalt Thomas Walther wurde deutlicher: "Der Tod hat in diesem Bericht nicht stattgefunden."
Tatsächlich ging es lange Zeit um Hannings Werdegang: Geboren am 28. Dezember 1921 in Helpup, Hitlerjugend, Fabrikarbeiter, 1940 zum Militär, 1944 in englische Kriegsgefangenschaft. Weil er nicht fronttauglich gewesen sei, sei er nach Auschwitz gekommen. "Ich wusste nicht, was Auschwitz war", heißt es in der Erklärung. Er habe es zunächst für ein Kriegsgefangenenlager gehalten.
Hanning erledigte Büroarbeit, schob auf Wachtürmen Dienst. Vom Vernichtungslager Birkenau will er sich ferngehalten haben, weil er gewusst habe, was dort geschah: "Ich habe immer zugesehen, dass ich dort nicht zum Einsatz kam." Hanning will nie zu den Rampen abkommandiert worden sein, an denen SS-Leute entschieden, wer sofort in den Gaskammern ermordet wurde und wer Zwangsarbeit verrichten musste. Einem Sachverständigen zufolge ist es allerdings wahrscheinlich, dass Hanning auch an der Rampe arbeitete.
Er wollte an die Front - durfte aber nicht
Die Erklärung erweckt den Eindruck, Hanning habe mit der Mordmaschinerie Auschwitz nichts zu tun gehabt. Fluchtversuche habe er nicht bemerkt, heißt es etwa. Subtext: Ich musste nie auf Flüchtende schießen. Zudem, so Hanning, sei aus seiner Sicht eine Flucht durch zwei elektrische und einen weiteren Zaun unmöglich gewesen.
Hätte er etwas tun können? Nein, wenn man der Erklärung folgt. "In Auschwitz war es jedenfalls so, dass einem dort recht deutlich gemacht wurde, dass man zu funktionieren hatte und das zu tun hatte, was von einem verlangt wurde." So etwas wie Menschlichkeit scheint nur an einem Punkt durch: Hanning will im Heimaturlaub den Brief eines Gefangenen an dessen Frau in Bielefeld übergeben haben. In Auschwitz habe ihn der Mann um diesen Gefallen gebeten. "Ich sagte ihm, wenn ich beim Transport dieses Briefes erwischt würde, wäre ich dran."
Die Angst vor Repressalien kommt in der Erklärung mehrmals vor. Hanning wollte nach eigener Aussage immer weg aus Auschwitz. "Jeder misstraute dem anderem. Es gab im Grunde keine richtige Kameradschaft, so wie ich diese von der Front her kannte." Zwei Anträge auf Versetzung an die Front seien abgelehnt worden.
Wenn man Hanning glauben mag, hat er bis zu diesem Prozess mehr als 70 Jahre nach Kriegsende seine Zeit in Auschwitz verheimlicht. Nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft "habe ich mit keinem anderen Menschen über meine Erlebnisse in Auschwitz gesprochen". Nicht mit der Frau, nicht mit den Kindern, nicht mit den Enkeln. Niemand habe von der Arbeit im KZ gewusst. "Ich konnte einfach nicht darüber reden. Ich habe mich geschämt."
Jetzt hat er doch gesprochen. Und wenn er aufrichtig gesprochen hat, schämt er sich immer noch.
Zusammengefasst: Im Detmolder Auschwitz-Prozess hat der frühere SS-Wachmann Reinhold Hanning sein Schweigen gebrochen. "Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe", sagte der 94-jährige Angeklagte. Dem Holocaust-Überlebenden Leon Schwarzbaum ging die Aussage nicht weit genug: "Er hätte mehr erzählen müssen, was in Auschwitz passiert ist."