Auschwitz-Prozess "Jeder, der diese Uniform trug, steht für den Terror"

Auschwitz-Prozess: "Jeder, der diese Uniform trug, steht für den Terror"
Foto: Ronny Hartmann/ dpaOskar Gröning bittet um Entschuldigung. Er habe nicht bedacht, "wie furchtbar" die Worte für die Auschwitz-Überlebenden und die Angehörigen der Opfer klingen mussten, die er zu Prozessbeginn verwendet hat. Sätze, die verstörten und jede Empathie für die Opfer vermissen ließen. Nun lässt der frühere SS-Mann in der zum Gerichtssaal umfunktionierten Ritterakademie in Lüneburg mitteilen: "Es war nicht meine Absicht, Ihre Gefühle zusätzlich zu verletzen."
Oskar Gröning ist am 10. Juni 94 Jahre alt geworden. Blass und zusammengesunken sitzt er auf der Anklagebank. Er muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau vor dem Landgericht Lüneburg verantworten. Die Anklage ist auf die sogenannte Ungarn-Aktion im Sommer 1944 begrenzt. Damals trafen in Auschwitz-Birkenau Eisenbahntransporte mit etwa 425.000 Menschen aus Ungarn ein.
Gröning spricht an diesem 13. Verhandlungstag, dem letzten, bevor am Donnerstag wohl die Plädoyers beginnen, nicht selbst. Er lässt seine Anwältin Susanne Frangenberg sprechen. Fünf Seiten liest sie für ihn in Ich-Form vor.
Zu Beginn des Prozesses verlor sich Gröning in Erinnerungen. Wodka spielte darin eine Rolle und "Damen", die den SS-Männern Vergnügen bereiten mussten. Gröning sprach von Menschen, die "versorgt" wurden, wenn er ermordet meinte. Es waren Anekdoten aus Auschwitz, im Plauderton vorgetragen.
Ob Gröning nun selbst Anlass sah, seine früheren Worte zu erklären, oder ob es die Idee seiner Verteidiger war, bleibt unklar. Dass Gröning an diesem Tag nicht selbst spricht, erklärt sein Anwalt Hans Holtermann mit der starken Belastung, die das Verfahren für seinen Mandanten bedeute.
"Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten"
Die Worte "Reue und Demut" hat Gröning schon zu Prozessbeginn verwendet. Jetzt lässt er sie Anwältin Frangenberg erneut vortragen. Er stehe "in Demut und Reue" vor den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer. "Gleichwohl habe ich bewusst nicht um Vergebung für meine Schuld gebeten." Dies stehe ihm angesichts der Dimension der Verbrechen nicht zu. "Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten."
Gröning bekennt sich auch an diesem Tag immerhin zu einer moralischen Schuld. "Mir ist bewusst, dass ich mich durch meine Tätigkeit in der Häftlingsgeldverwaltung am Holocaust mitschuldig gemacht habe", sagt er und fügt hinzu: "Mag mein Anteil auch klein gewesen sein."
Zu Beginn schildert seine Anwältin ein weiteres Mal, dass seine Hauptaufgabe in Auschwitz das Zählen und Sortieren des Geldes der Deportierten gewesen sei. "Immer mal wieder" sei er von 1942 bis Anfang 1944 auch zum Dienst an der Rampe eingesetzt worden. Dort entschieden SS-Männer, wer sofort in den Gaskammern getötet und wer im Arbeitslager zunächst gequält werden sollte. Gröning will mit der Selektion nichts zu tun gehabt haben. Er habe nur das Gepäck der Deportierten bewacht. Dass die meisten der Ankommenden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden, habe er vom ersten Tag an gewusst.
Gleich bei seinem ersten Einsatz an der Rampe habe er den Mord an einem Baby beobachtet. Er habe deshalb im Herbst 1942 einen ersten Antrag auf Versetzung gestellt - und später noch zwei weitere. "Natürlich hätte ich dies öfter und mit mehr Nachdruck tun sollen, das ist mir seit Langem klar geworden", sagt Gröning.
Er bleibt dabei, dass er während der Ungarn-Aktion nur "zwei- bis dreimal" an der Rampe gearbeitet habe. "Letztlich war ich froh, so wenig wie möglich an der Rampe Dienst tun zu müssen", lässt er vortragen. Die Erlebnisse dort würden ihn bis heute nicht loslassen. Warum er dennoch Kameraden vertrat, weil diese, wie er zuvor ausgesagt hatte, ins Theater wollten, erklärt er nicht.
Die Aussagen der Auschwitz-Überlebenden im Prozess hätten ihn stark beeindruckt. "Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung von den fürchterlichen Zuständen während der Transporte. Das hat mich erschrocken", trägt Frangenberg für ihn vor.
Tag und Nacht Schreie gehört
Die Auschwitz-Überlebende Irene Weiss berichtet an diesem Tag noch einmal von dem Schrecken. Die 84-Jährige lebt heute im US-Bundesstaat Virginia. 1944 ist sie als 13-Jährige aus Ungarn in einem Viehwaggon, zusammengepfercht mit 80 anderen, nach Auschwitz deportiert worden. Ihre Eltern und vier Geschwister überlebten Auschwitz nicht. Irene Weiss musste neben den Gaskammern in der sogenannten Effektenkammer das Gepäck der Deportierten sortieren. Tag und Nacht hörte sie die Schreie der Sterbenden.
Dann spricht sie Gröning direkt an. Dass er sich "nicht als Täter, sondern nur als Rädchen im Getriebe" sehe, mache für sie keinen Unterschied. "Wenn er heute hier säße in seiner SS-Uniform, würde ich zittern, und all der Horror, den ich als 13-Jährige erlebt habe, wäre wieder da", sagt sie. "Für dieses 13-jährige Mädchen steht jeder, der diese Uniform an diesem Ort trug, für den Terror und für die Tatsache, wie tief die Menschheit sinken kann." Und heute empfinde sie noch immer ganz genauso.
Gröning hatte sich zuvor an einer Erklärung versucht, wie es ihm möglich war, in Auschwitz Dienst zu tun. Er spricht von "Verdrängung", "Gewohnheit" und der "Bequemlichkeit des Gehorsams". Schließlich sagt er: "Dieser uns anerzogene Gehorsam verhinderte, die tagtäglichen Ungeheuerlichkeiten als solche zu registrieren und dagegen zu rebellieren. Es ist nach heutigen Maßstäben nicht zu fassen."