Breiviks Tirade vor Gericht 75 Minuten Verachtung und Hohn
Gut eine Stunde sprach Anders Breivik vor Gericht über die "multikulturelle Hölle". Der Staatsanwaltschaft kommt die Tirade gelegen, da sie ihrer Anklagestrategie hilft. Vertreter der Nebenklage fanden den Vortrag dagegen unerträglich und kritisieren das Gericht.
Oslo - Blanker Zynismus, krude Selbstrechtfertigung und ein abstruses Weltbild: Die erste Aussage von Anders Breivik vor Gericht hat Befürchtungen bestätigt, der Attentäter werde das Verfahren nutzen, um sein Weltbild zu propagieren. Mehrere Male versuchte Richterin Wenche Arntzen, Breivik zu unterbrechen, drängte ihn dazu, sein Statement abzuschließen - und bekam dafür von unerwarteter Seite Kritik: Staatsanwalt Svein Holden ergriff das Wort: "Wir glauben, dass es wichtig ist für Breivik, seine letzten drei Seiten vorzulesen." Insgesamt umfasste Breiviks vorbereitetes Manuskript 13 Seiten.
In den Augen der Ankläger disqualifiziert sich Breivik mit seinen Ausführungen. Sie gehen offensichtlich davon aus, dass es ihrer Anklagestrategie hilft: Holden und seine Kollegin Inga Bejer Engh wollen ihn als Geisteskranken darstellen und in die geschlossene Psychiatrie schicken.
Überraschend waren aber auch die Opferanwälte gespalten in ihrer Haltung, ob man Breivik ins Wort fallen sollte. Anne Gry Rønning-Aaby etwa, die einen Überlebenden vertritt, sagte im Anschluss an Breiviks Statement, man hätte ihm nicht immer wieder ins Wort fallen müssen: "Es war wichtig, seine Erklärungen zu hören, warum er getan hat, was er getan hat", sagt sie.
Rønning-Aaby fand lediglich, man hätte Breivik nicht dazu aufrufen lassen sollen, seine Taten nachzumachen. "Damit stiftet man nur Nachahmer an." Ganz anders äußerte sich der Nebenklage-Anwalt Christian Lundin: "Meine Klienten fanden es unmöglich, dass er so lange hat sprechen können." Das sahen auch neutrale Prozessbeobachter so: Eine Reporterin des "Guardian" twitterte nach etwa der Hälfte von Breiviks Vortrag, sie könne nicht glauben, dass das Gericht all diese Aussagen zulasse.
Vortrag mit emotionsloser Stimme
Wie schon am Montag betrat Breivik auch am Dienstag lächelnd den Gerichtssaal und hob den Arm zum provozierenden Gruß mit geschlossener Faust. Eigentlich waren für seinen Vortrag nur 30 Minuten vorgesehen, Breivik las ein vorbereitetes Statement vor - im Wesentlichen eine Zusammenfassung des 1500-Seiten-Manifests, das er vor seinen Taten publiziert hatte.
Tatsächlich verlas Breivik dann aber 75 Minuten lang in sedierender Monotonie seine Ungeheuerlichkeiten. Er verhöhnte seine Opfer: "Wenn wir die Einwanderungspolitik der Arbeiterpartei stoppen können, wenn wir 77 Menschen exekutieren, dann wird das zu einer besseren Gesellschaft führen und Bürgerkrieg in Norwegen verhindern."
Breivik zufolge wurde Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach von "Marxisten und Multikulturalisten" übernommen, weil es keine "antikommunistischen" Führer wie Joseph McCarthy gehabt habe. Der US-Senator hatte in seinem Land in den fünfziger Jahren Unschuldige mit der Behauptung verfolgt, sie seien Kommunisten. "Aber sogar McCarthy war zu gemäßigt."
Er stilisierte sich als Verteidiger einer ethnischen Minderheit und verglich sich mit Sitting Bull, der die Ureinwohner Amerikas gegen die westlichen Kolonialisten verteidigte. Er sei ein Krieger, ein Ritter und ein Held. Ein unerschütterlicher Kämpfer gegen die große Verschwörung, mit der die islamistischen Einwanderer Norwegen und ganz Europa erobern wollen. Doch selbst die Sätze mit dem größten Pathos trug Breivik in seiner emotionslosen Stimme vor, fast ohne Betonung.
Immer wieder betonte Breivik, er sei nicht verrückt - das treffe vielmehr auf Norwegens Politiker zu. "Sie erwarten, dass wir bei unserem ethnischen und kulturellen Untergang applaudieren Sie sollten verrückt genannt werden, nicht ich." Damit spielte er auf eine zentrale Frage des Verfahrens an, die nach seiner Zurechnungsfähigkeit. Breivik hat mehrmals gesagt, er sei zurechnungsfähig.
Diese Sicht stützt ein Gutachten. Wenn das Gericht dieser Expertise folgt, drohen Breivik bei einem Schuldspruch bis zu 21 Jahre Haft. Danach besteht die Möglichkeit, ihn lebenslang zu verwahren, sollte von ihm eine Gefahr ausgehen. Sollte er nach Einschätzung des Gerichts nicht zurechnungsfähig sein - wofür ein zweites Gutachten spricht -, könnte der 33-Jährige lebenslang in der Psychiatrie untergebracht werden.
Mitarbeit: Benjamin Schulz