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Prozess zum Zugunglück bei Bad Aibling Tödliches Spiel

Beim Prozessauftakt zum Zugunglück von Bad Aibling spricht der angeklagte Fahrdienstleiter zu Angehörigen der Todesopfer und zu Überlebenden. Seine Worte klingen authentisch, fast mutig. Bis ein Polizist ihn schwer belastet.

Der Mann, der für das schwerste Zugunglück in Bayern seit 1975 verantwortlich sein soll, versteckt sich nicht. Schnellen Schrittes, flankiert von Beamten, bahnt sich Michael P. im Landgericht Traunstein den Weg zum Saal B33. Seine Hände sind gefesselt. Er nimmt Platz auf der Anklagebank und stellt sich den Blicken der Neugierigen: Ein kleiner Mann, 40 Jahre alt, mit dichtem, dunklem Haar, gestutztem Bart und kariertem Hemd unter einem Wollpullover.

Erst als der Vorsitzende Richter der 2. Strafkammer, Erich Fuchs, die Hauptverhandlung beginnt, lässt sich Michael P. die Handschellen abnehmen. Der Staatsanwalt verliest die Anklage: Der Fahrdienstleiter Michael P. soll, abgelenkt durch ein Rollenspiel auf seinem privaten Handy, am 9. Februar folgenschwere Fehler im Stellwerk am Bahnhof Bad Aibling begangen haben. Zwei Nahverkehrszüge kollidierten deshalb gegen 6.47 Uhr auf eingleisiger Strecke. Michael P. ist angeklagt wegen fahrlässiger Tötung in zwölf Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in 89 Fällen. Insgesamt treten 29 Nebenkläger in dem Verfahren auf.

Staatsanwalt Jürgen Branz verliest die Namen aller 101 Opfer: die der zwölf getöteten Männer im Alter von 24 bis 59 Jahren. Anschließend die der 89 Überlebenden samt ihrer einzelner Verletzungen. Viele von ihnen wurden damals schwer verletzt, einige von ihnen sitzen im Saal. Es ist ein großer Raum, auf einer Empore ist Platz für Zuschauer.

"Sie haben durch mein Fehlverhalten großes Leid erfahren"

Michael P. wolle eine Erklärung abgeben, kündigt sein Verteidiger Thilo Pfordte an. Der Angeklagte steht auf, richtet das Mikrofon, blickt zu den Nebenklägern, zu den Zuschauern, hoch auf die Empore. "Sie dürfen auch sitzen bleiben", sagt der Vorsitzende Fuchs. Michael P. schüttelt den Kopf, räuspert sich.

"Ich möchte gerne ein paar persönliche Worte an die Angehörigen richten", sagt er. "Es fällt mir nicht leicht. Ich weiß, ich hab große Schuld auf mich geladen. Ich weiß, dass ich das nicht mehr rückgängig machen kann, auch wenn ich mir das wünschen würde." Michael P. spricht frei, mit starkem bayerischen Akzent, ohne sich zu verhaspeln. "Sie haben durch mein Fehlverhalten großes Leid erfahren. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich in Gedanken bei Ihnen bin und bei Ihren Angehörigen. Ich hoffe, dass Sie das alles aufarbeiten können. Und dass sie weiterleben können. Danke." Michael P. setzt sich wieder.

Seine Worte, sein Bedauern klingen authentisch, aufrichtig. Dass er, der nach dem Unglück als suizidgefährdet galt, diese Worte nicht abliest oder von seinen Verteidigern vortragen lässt, nötigt Respekt ab. Im Laufe des ersten Verhandlungstags wird dieser Respekt jedoch verfliegen.

Ulrike Thole, seine zweite Verteidigerin, erhebt sich und erklärt, dass Michael P. alle Dienstverfehlungen an jenem 9. Februar einräume: Er gab ein Sondersignal, das er nicht hätte geben dürfen; er setzte einen Notruf falsch ab und er spielte mit seinem privaten Handy, obwohl das strikt verboten ist. Ein Geständnis.

Mit einer Einschränkung: Verteidiger Pfordte betont, dass Michael P. eine Verletzung der Sorgfaltspflicht gestehe. In der Hauptverhandlung aber müsse geklärt werden, inwieweit er sich auch pflichtwidrig verhalten habe.

Angeklagter schweigt zu Handynutzungsverhalten

Die beiden Züge - der Meridian 79506 der Bayerischen Oberlandbahn von Rosenheim kommend und der Meridian 79505 aus der Gegenrichtung - sollten sich laut Fahrplan im Bahnhof Kolbermoor kreuzen. Michael P. sagt, er sei im Kreuzungsplan um eine Zeile verrutscht und habe angenommen, die beiden Züge sollten sich im Bahnhof Bad Aibling kreuzen. So gab er den entgegenkommenden Personenwagen auf der eingleisigen Strecke jeweils freie Fahrt.

Die Fragen zu seinen persönlichen Verhältnissen beantwortet Michael P. mit ruhigen Sätzen: Wie er nach der mittleren Reife eine Ausbildung im Eisenbahnbetriebsdienst bei der Deutschen Bahn AG in Rosenheim und München absolvierte; wie er die alle zwei Jahre stattfindenden Prüfungen bestand; wie er durchgehend als Fahrdienstleiter in Bad Aibling, Westerham und Bruckmühl arbeitete.

Ob er auch Fragen zu seinem Handyverhalten und seinen Handygewohnheiten beantworten würde, fragt der Vorsitzende. Michael P. blickt zu seinen Verteidigern. Anwalt Pfordte greift zum Mikrofon: "Dazu macht er keine Angaben."

Ob Früh- oder Spätschicht: "Er hat nahezu jedes Mal gespielt"

Die macht aber Steffen P., Polizeibeamter aus Rosenheim, der die Handynutzung des Angeklagten unter die Lupe genommen hat: Demnach hat Michael P. an jenem 9. Februar durchgehend von 5.11 Uhr bis 6.40 Uhr auf seinem Smartphone das Onlinespiel "Dungeon Hunter 5" gespielt. In dem Rollenspiel geht es darum, möglichst viele Bösewichte zu töten. Noch um 6.38 Uhr soll Michael P. einen für dieses Spiel notwendigen Krieger rekrutiert haben.

Um 6.46 Uhr setzte Michael P. über GSM-R Funk, dem Mobilfunknetz der Bahn, den ersten Notruf ab. Eine Minute später den zweiten. Beide Hilferufe erreichten die Triebfahrzeugführer nicht, Michael P. hatte sich auch da vertan. Um 6.47 Uhr kam es zu dem verheerenden Zusammenstoß.

Damit nicht genug. Mithilfe des Spieleherstellers hat der Polizeibeamte aus Rosenheim nicht nur Michael P.s Spielverhalten am Tattag rekonstruiert, sondern alle Spieldaten mit dem Dienstplan des Angeklagten seit Jahresbeginn abgeglichen: Demnach hat Michael P. an jenem 9. Februar nicht zum ersten Mal während der Dienstzeit mit seinem Handy gespielt. "Er hat nahezu jedes Mal gespielt", sagt der Ermittler. Egal, ob in der Frühschicht oder in der Spätschicht. Michael P. blickt ins Leere.

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Zugunglück: Der Unfall bei Bad Aibling

Foto: Amelie Sachs/ dpa
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